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Ausgestattet mit 700 Euro reiste Fionn fünf Wochen umher.

© privat

Mit einem Stipendium durch den Norden Europas: Auf der Suche nach dem Glück

Der 19-jährige Fionn Pötzsch aus Michendorf reiste allein durch Schweden und Finnland. Er will wissen: Warum leben dort die glücklichsten Menschen der Welt.

Es ist ein vollkommener Moment, der selbst auf schönen Reisen nicht alltäglich ist: Fionn Pötzsch, 19 Jahre alt, Oberstufenschüler im Schulzentrum Am Stern, hat auf einer spärlich bewaldeten Düne oberhalb eines langen Strandes an der schwedischen Südostküste übernachtet. Am Abend die Hängematte zwischen zwei Bäume gespannt, und jetzt, am Morgen, vielleicht 100 Kilometer nördlich von Ystad, ein überwältigendes Panorama. Sein Blick schweift über das tiefblaue Meer und den in der Morgensonne goldfarbenen Sandstrand unter ihm. Windlose Stille. Keine Menschenseele weit und breit. Dann steht der Michendorfer auf, bereitet sich mit dem Gaskocher einen Kaffee zu und frühstückt mitten in der Natur: Porridge mit Apfelstücken. „Ein einziger Traum“, sagt der Schüler. 

Im Juli vorigen Jahres war das. Der hoch aufgeschossene junge Mann, wuscheliges Haar, strahlendes, gewinnendes Lächeln, ein Typ wie der Tennisprofi Alexander Zverev, war während der Sommerferien 2021 fünf Wochen als Stipendiat der Zis-Stiftung in Skandinavien unterwegs. Völlig auf sich allein gestellt, aber mit einem klaren Ziel: er will herausfinden, warum die Menschen im hohen Norden Europas in Umfragen regelmäßig als die glücklichsten der Welt ausgewiesen werden. 

Die Stiftung, 1955 als „Conference of internationally-minded schools“ in Frankreich gegründet, hat bisher rund 2000 Stipendien an junge Menschen zwischen 16 und 20 Jahren vergeben. Für Reisen abseits des Massentourismus. 

Sind Skandinavier wirklich so glücklich?

Zu den 27 Deutschen, die sich 2021 mit 700 Euro plus 50 Euro für Corona-Tests auf den Weg machen, zählt Fionn Pötzsch. „Ich hatte den von der Uno unterstützten World Happiness Report gelesen und wollte wissen, ob die Skandinavier wirklich so glücklich sind“, erzählt der Schüler den PNN. Dieses Thema schlägt der Schüler der Stiftung vor: „Er hat uns mit seiner tollen Bewerbung überzeugt“, sagt Martin Seiwert, Kuratoriumsmitglied und Wirtschaftsjournalist den PNN. 

Pötzsch ist mit seinem heute 22-jährigen Bruder und seiner elfjährigen Schwester bei seinen Eltern in Michendorf aufgewachsen, steht vor dem Abitur und will dann eine Tischlerlehre beginnen. Jetzt hat er der Stiftung seinen Reisebericht vorgelegt. 

Am 1. Juli steigt Pötzsch in Hamburg in den Nachtzug nach Malmö. Einfach ist das nicht für ihn: „Ich habe mit den Tränen gekämpft. Ich war 16, als ich mal allein in England war. Aber nun stand mir eine lange Zeit ganz allein bevor.“

Für 50 Euro hat er ein günstiges Ticket ergattert. „Am Anfang dachte ich: 700 Euro für fünf Wochen, das ist krass wenig. Aber es hat gereicht, ich war sparsam, hab alle Ausgaben aufgeschrieben“, sagt Pötzsch. Geld nachschicken lassen darf er sich nicht. Nur einmal übernachtet Fionn für 17 Euro in einem Hostel, sonst sucht er Bäume für seine Hängematte. Auch in Malmö: „Toll, dass das überall erlaubt ist.“

Urlaub auf Campingplätzen als gute Vorbereitung 

Die Reduzierung auf das Elementare hat er gelernt. Seine Eltern, beide Montessori-Pädagogen, haben den Urlaub mit ihren drei Kindern in Italien nicht in Hotels, sondern auf Campingplätzen verbracht. „Mir ist unterwegs klarer geworden, dass meine Familie mir sehr viel mitgegeben hat für das Leben“, sagt er. 

Ein großer Wanderrucksack ist sein ständiger Begleiter. So ein Kaventsmann muss schlau gepackt sein: unten der Schlafsack, eine aufblasbare Isomatte, ein Moskitonetz und eine neun Quadratmeter große Zeltplane gegen Regen. In der Mitte Klamotten, oben ein Fotoapparat, ein Gaskocher, ein kleiner Topf. Dann Reis, Nudeln, Zwiebeln, Knoblauch, Pfeffer, Salz. Ganz wichtig, gerade für Vegetarier wie ihn: Pesto, die Zauberformel für Nudelgerichte. Fionn Pötzsch fällt es nicht schwer, fremde Menschen anzusprechen. 

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Schon im Zug nach Malmö lernt er den 23-jährigen Studenten Omar aus Uppsala kennen, der gerade von einer Interrail-Tour durch acht Länder zurückkommt. Jeden, den er trifft, bittet er um ein Interview zum Thema Glück – nie wird ihm eines verwehrt. Omar allerdings hält den Begriff „Glück“ für „viel zu abstrakt“. 

Dann fragt Fionn den Buchhändler Hendrik, ob er sein Handy bei ihm aufladen könne. Hendrik ist sympathisch, Fionn schlägt vor, zusammen essen zu gehen. Hendrik bringt zwei Freunde mit, Gesprächsthema in einer kleinen Bar in Malmö: das Glück. Ihre Sicht: Die Schweden seien durch den Staat abgesichert, die Gesundheitsvorsorge sei hervorragend. 

Das hört der Michendorfer oft und ist verwundert: „Ich verstehe bis heute nicht, warum die Skandinavier ihre Lebensumstände immer besser bewerten als wir Deutsche es mit unseren tun. Wir sind doch ähnlich gesichert.“ Doch auf den ersten Plätzen des Glücks-Reports stehen Jahr für Jahr skandinavische Länder. Deutschland rangiert abgeschlagen auf Rang 16, nicht selten auch noch weiter unten. 

Kurz vor der Abreise hat Fionn sich verliebt

Buchhändler Hendrik bietet ihm eine Übernachtung auf der Couch an. Vor dem Einschlafen geht es wieder um das Glück. Da weist Hendrik auf eine Besonderheit hin, die auch andere Befragte erwähnen werden: die in Schweden vielerorts unberührte Natur. Ein paar Zahlen haben sich dem jungen Deutschen eingeprägt: In Schweden leben 10,3 Millionen Menschen, macht pro Quadratkilometer fast 24. Auf derselben Flächengröße tummeln sich in Deutschland mehr als 233 Bürger. 

Zweimal wöchentlich telefoniert der Schüler mit seinen Eltern, Flatrates machen das möglich. Regelmäßig auch mit der 18 Jahre alten Potsdamerin Ulrike. Sie haben kurz vor seiner Abreise eine Nacht am Ostseestrand von Zinnowitz verbracht und sich verliebt. „Zwei längere Beziehungen“, sagt er, habe er bisher erlebt, einmal fünf Monate und einmal eineinhalb Jahre. Mit Ulrike werde es halten: „Es passt einfach.“

Der Jahre alte Fionn Pötzsch aus Michendorf.
Der Jahre alte Fionn Pötzsch aus Michendorf.

© Ottmar Winter

Sein Kopf ist voller Erinnerungen – etwa an den Tag, als er an dem einsam gelegenen Haus eines Ehepaars klingelt und um eine analoge Straßenkarte bittet. Er kommt mit dem Ehemann ins Gespräch, einem Mann in den Vierzigern, der ebenfalls Hendrik heißt. Bis in die Nacht unterhalten sie sich über das Glück. Am nächsten Morgen bietet ihm Hendrik für eine Woche sein Lastenrad an, um das Land besser kennenzulernen. „Einfach so. Ohne jede Sicherheit“, sagt Fionn. 500 Kilometer strampelt er sich ab. Einmal macht er seine Hängematte an Bäumen neben einem Waldsee fest. 

Ein Ausweg aus der Krise 

Eines Morgens bricht aber auch, ohne jede Vorwarnung, etwas über ihn herein. „Ich wachte auf und fühlte mich wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt", erzählt er. „Ich war völlig kraftlos, konnte nicht aufs Fahrrad steigen und wusste plötzlich nicht mehr, wohin ich wollte.“ Er erzählt weiter: „Mitten im Wald habe ich viel geweint und laut geschrien. Ich wäre so gern an einem Ort gewesen, an dem ich nicht allein bin.“ Aber er findet einen Ausweg. Jedem Reisestipendiaten wird von der Stiftung ein Mentor beigeordnet, jemand, der selbst schon einmal Stipendiat war und in Krisen beraten soll. Fionn ruft Robin an. Der hilft ihm, das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen.

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Dann, wieder einmal auf der Suche nach einer Aufladestation für sein Handy, ein abgelegenes Haus, in das die Deutschen Jennifer und Mikael aus dem Rheinland mit ihren Kindern gezogen sind. Sie ist Schneiderin, er Landschaftsbauer. Für den Teenager auf der Suche nach dem Glück werden sie zum Glücksfall. Sie bieten ihm an, in ihrer Ferienwohnung zu übernachten. „Glücklich und zufrieden“ sei er nach vielen Tagen „mal wieder in einem richtigen Bett eingeschlafen“, sagt Fionn. Drei Tage bleibt er, dann geht es zurück Richtung Trelleborg. 

"Die Menschen hier sind mit wenig zufrieden"

In einem kleinen Dorf sitzt die schwedische Pensionärin Bodil vor ihrem Haus, sie unterhalten sich. Fionn darf in ihrem Garten übernachten, dort duschen und bekommt ein Abendbrot. Bodil erklärt das Glücksgefühl der Skandinavier damit, „dass wir von zwei Weltkriegen verschont blieben“. Die Gleichberechtigung habe noch Schwächen, aber als bedrohlich empfinde sie den Klimawandel und die Auswüchse der Konsumgesellschaft: „Mehr, mehr, mehr von allem. Das ist nicht gut für unsere Erde“, gibt sie dem Brandenburger mit auf den Weg.  

Ein Schwede vertraute Fionn das Lastenrad an.
Ein Schwede vertraute Fionn das Lastenrad an.

© privat

Am Ende der Reise fährt Fionn nach Finnland, das im Welt-Glücksreport den ersten Platz belegt. Er lernt die 24-jährige Künstlerin Inka aus Helsinki kennen. Sie sagt, der Ort, an dem sie lebe, sei „ein Vogelheim“, weil er von den Krisen der Welt verschont bleibe. Und die 27-jährige Zirkus-Artistin Yanita nennt einen weiteren Grund für das Glücksgefühl der Skandinavier: „Die Menschen hier sind mit wenig zufrieden und sehr bescheiden.“ 

Fionn trägt rechts einen Ohrring, den ihm seine Mutter kurz vor der Reise geschenkt hat. Jetzt hat sich auf der Innenseite seines linken Oberarms ein Tattoo hinzugesellt. Ein Eichenblatt, er hat es sich in Finnland stechen lassen. „Es steht für Glück und Stärke“, sagt er. Klingt wie ein Programm.

Carsten Holm

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