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Michendorf: Ein echter Poet

Thomas Kunst liest im Paul-Huchel-Haus aus seinem neuen Gedichtband

Michendorf - Was scheinbar nicht zusammenpasst, gehört doch häufig zusammen. eine Ameise auf dem Eis beispielsweise, oder Kolonien und Manschettenknöpfe. Natürlich will das „alltägliche Leben“ von solch kühnen Konstruktionen absolut nichts wissen, die Literatur schon – genauer die Lyrik. Noch genauer: Die Poesie. Erstere müht sich bekanntlich mehr um Weltbeschreibung. Die Poesie jedoch kann mehr, weiß mehr: Sie setzt scheinbar unmögliche Dinge zusammen, bis man's glaubt. Ungefähr so, wie es der französische Dichter Lautreamont ganz programmatisch im 19. Jahrhundert formulierte: „Schön wie die Begegnung einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Operationstisch“. Der Surrealismus hat gezeigt, wie gut das funktioniert.

Jeder Zufall gibt eben Sinn. Das weiß die Poesie, das scheint auch der Leipziger Dichter Thomas Kunst so zu handhaben, nicht nur wegen seines Namens. Nach weitaus mehr als zehn Veröffentlichungen, mehrere Bände Lyrik, Roman, Hörbuch, Musik-CD liegt ihm fast die gesammelte Kritik zu Füßen. Der gebürtige Stralsunder des Jahrgangs 1965 ist etwas Seltenes unter den Literaten, er ist ein echter Poet, und als solcher befugt, alle Unmöglichkeiten des Hiersein möglich und glaubhaft zu machen.

Am Donnerstag ist er Gast im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus, um aus seinem Neuesten, „Kolonien und Manschettenknöpfe“, zu lesen. Sein erstes Buch im Suhrkamp-Verlag übrigens, was wohl für einen Autor glatt den Ritterschlag bedeutet. Es wird ja auch nicht jeder in den internationalen Autorenverband P.E.N. aufgenommen – ein so wunderbarer Sonette-Schreiber wie er natürlich schon. Er beherrscht sogar die hohe Schule des Sonetten-Kranzes, wo die Endzeile eines Gedichtes der Anfang des nächsten ist, und alles dabei in der Waage bleibt. Poesie schafft „Welt“. Thomas Kunst war 1995 bei der allerersten Lesung im Huchel-Haus dabei, als das Haus noch nicht einmal renoviert war. Vor drei Jahren las er, lebhaft und dabei bescheiden, aus „Die Arbeiterin auf dem Eis“, besagte Ameise eben.

Bei Kunst wird aus etwas ganz Kleinem oft etwas Großes, das ist seine Art. Bei dieser Lesung hatte man manchmal das Gefühl, als würde sich seine hohe Sonetten-Schule allzu sehr im Alltäglich-Anekdotischen verfangen. Vielleicht ist das bei „Kolonien und Manschettenknöpfe“ anders, der Titel klingt nach mehr Welt-Erfahrung. Es soll sich irgendwo und irgendwie zwischen Milwaukee und der Arche Noah tummeln. Klingt das nicht wie Nähmaschine und Regenschirm in einer rein zufälligen Begegnung? Und da zu einer Lesung im Huchelhaus immer auch ein zweiter gehört, hat Hausherr Lutz Seiler diesmal den Literaturkritiker Tobias Lehmkuhl als Moderator eingeladen. Literaturleute unter sich. Je mehr da über Poesie und Leben, je weniger über die Literatur geredet wird, um so besser.

In diesem Buch jedenfalls werden kurzerhand „sämtliche Pferde“ im Bürgerkriegsland Malawi beschädigt, obwohl einem eher „nach abgeflauter Zufriedenheit zumute“ war. „Gedichtverlauf mit Äpfeln an den Rändern“, Wasserkernenot – ein großes Gedicht aus Welt und Poesie gemacht. Thomas Kunst versteht es wie kein Zweiter – wehe, es wäre anders – beides in Eines zu gießen, mit ihren ernsten Dingen wie ein Kind zu spielen. Texte, die „Welt“ nur bedeuten – nicht Welt sind! Er dichtet, als hielte er Novalis' „Zauberstab der Allegorie in Händen“, als sei alles nur immer Gleichnis. Dort ungefähr geht es wohl hin, auch wenn er noch immer einem bürgerlichen Beruf nachgeht. Wo? In der Deutschen Nationalbibliothek zu Leipzig. Gerold Paul

Lesung und Gespräch Donnerstag, 5. Oktober um 20 Uhr, Wilhelmshorst, Hubertusweg 41

Gerold Paul

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