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KulTOUR: Kein Tag im Archiv war umsonst! Wilhelmshorst erinnert an Wolfgang Hilbig

Wilhelmshorst - Ein unbeschriebenes Blatt Papier vor sich, im Kopf die Frage: Wer bin ich? Nur das Schreiben kann die Antwort geben, nicht das allgemeine Dasein.

Wilhelmshorst - Ein unbeschriebenes Blatt Papier vor sich, im Kopf die Frage: Wer bin ich? Nur das Schreiben kann die Antwort geben, nicht das allgemeine Dasein. Sehr viel Schreiben, meistens täglich, und dies ohne jede Störung durch Telefon und Klingel. So war der Schriftsteller Wolfgang Hilbig (1941 - 2007) in seiner Lebenszeit. Für die Welt der Literaten ein bewundertes und preisumworbenes Schreibgenie in Sachen Lyrik, Prosa und Essay, dabei der breiten Öffentlichkeit bis heute kaum bekannt – obwohl ihn die Fachwelt mit Beckett, Proust und Kafka in Verbindung bringt.

Seine thüringische Geburtsstadt Meuselwitz darf sich ob so eines Mannes nur glücklich schätzen. Dem schloss sich am Mittwoch das Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus sehr gerne an. Nicht nur, weil der Dichter 2007 hier den Peter-Huchel-Preis als seine letzte Ehrung verliehen bekam, sondern weil hier jetzt auch die große Wolfgang-Hilbig-Biografie von Autor Michael Opitz vorgestellt wurde. So viel Publikum sah das Haus schon lange nicht. Also doch nicht so unbekannt? Wie dem auch sei, es war ein Abend der ganz besonderen Art. Das lag an Hilbig, an den Biografen, zu einem Gutteil aber auch an Erdmut Wizisla, der als Chef der Walter-Benjamin- und Bertolt-Brecht-Archive den Abend moderierte.

Diese Hilbig-Biografie, so Literaturwissenschaftler Michael Opitz, sei einerseits durch zahlreiche Befragungen und Archiv-Recherchen entstanden. Alles mit Vorsicht bedacht und mit behutsamer Hand auf über 600 Seiten gebracht. Wie Hilbig aber sein Leben auf leerem Papier gleichsam erst erschuf, so wollte auch er es in seiner bei Fischer erschienenen Lebensbeschreibung halten. Und so las er mehr oder weniger ausführlich aus Textdokumenten und Briefen.

Der „große Hilbig-Abend“ indes verlief eher anders herum. Hilbigs Leben geriet zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses, zumal er einerseits als „Arbeiterschriftsteller“ und Autodidakt zu gelten hatte, andererseits in keinerlei Muster passte. Ein Original also, das als Heizer Kohlen schippte und jahrzehntelang für die Schublade schrieb. Erst Franz Fühmann sorgte dafür, dass Hilbig-Texte in „Sinn und Form“ sowie 1983 bei Reclam erschienen.

Kindheit und Jugend verbrachte Hilbig ohne den bei Stalingrad verschollenen Vater. Er wuchs bei einem gewalttätigen Opa polnischer Herkunft auf, der nicht lesen und schreiben konnte und die ersten literarischen Versuche des Knaben zutiefst verachtete. Dann drehte sich der Abend um die Preisverleihung in Hanau 1983. Dort erhielt Hilbig den „Brüder-Grimm-Preis“. 1985 reiste er mit einem Einjahresvisum, das später verlängert wurde, erneut nach Hanau und blieb nun in der BRD – mit zunehmender Vereinsamung. Der Fall der Mauer führte bei ihm zu einer nachhaltigen Schreibhemmung. Auch als er 1994 nach Berlin zurückkehrte, zum Prenzlauer Berg. Diese biografischen Zäsuren und Hilbigs Identitätsprobleme waren für Opitz eine „riesige Entdeckung“. Der Biograf fand in den Archiven und anderswo unbekannte Texte, Korrespondenzen des Briefevielschreibers, sogar Hinweise auf Comics aus Hilbigs Schulzeit. Der nun wollte nur immer Schriftsteller sein, und sonst gar nichts. Und ist so ein ganz Besonderer geblieben, ein Geheimtipp für Kenner und Adlaten, „das große Kind, das mit den Meeren spielt“, wie Fühmann ihn beschrieb. Gerold Paul

Michael Opitz, „Wolfgang Hilbig. Eine Biografie“, 28 Euro, erschienen im Fischer Verlag

Gerold Paul

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