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Glückliche Kindheit. In der Nähe von Schloss Saabor (heute Zabór in Polen) erlebte Dorothea ihre schönste Zeit. Mit zwölf Jahren musste sie mit ihrer Mutter und zwei Schwestern fliehen.

© Repro/B. Stelley

Kindheit im Zweiten Weltkrieg: Ein Stück kurze Kindheit

Dorothea Sauer erlebt als Kind die schönste Zeit ihres Lebens bei Schloss Saabor in Schlesien. Im Sommer 1945 durchlebt sie hautnah Vertreibung und Flucht aus ihrer Heimat

Werder (Havel) - Dorothea Sauer breitet eine alte Landkarte auf ihrem Teppich aus. Es fällt ihr nicht leicht, die Knochen wollen nicht mehr so richtig. Die Karte sieht beinahe aus wie neu und zeigt Deutschland ein wenig angegilbt, in den Grenzen von 1939. „Die hüte ich wie meinen Augapfel“, sagt Dorothea Sauer. Ein weiteres Merkmal der Karte sind viele kleine, rote und blaue Klebepunkte. Sie erzählen, zumindest geografisch, einen Teil von Dorothea Sauers Lebensgeschichte. Der erste Punkt klebt im damaligen Schlesien, der letzte Punkt endet in Potsdam. Der Betrachter muss kein Geschichtsstudium absolviert haben, um schnell zu erkennen, dass ein zwar kurzer, aber umso intensiverer Teil von Dorothea Sauers Leben von Flucht und Vertreibung geprägt war.

Im Oktober 2014 erschien in den Potsdamer Neuesten Nachrichten ein Artikel über Franz Friedrich Prinz von Preußen, anlässlich seines 70. Geburtstags. Die Tochter machte Dorothea Sauer auf den Artikel aufmerksam und weckte sofort Erinnerungen. Erinnerungen an Schloss Saabor, an die Hohenzollern und vor allem an Hermine, die letzte deutsche Kaiserin.

Dorothea Sauer trägt ein Haarband, das ein wenig an die Mode der Dreißigerjahre erinnert. „Das trage ich vor allem wegen des Hörgeräts, damit es mir nicht rausrutscht“, sagt sie. Und erzählt. Im Jahr ihrer Geburt kommen die Nazis an die Macht. Ein großer Krieg wird bald ein zweites Mal in jenem Jahrhundert sein bitter grausames Antlitz entblößen. Bald ist für viele Deutsche im Osten des damaligen Deutschen Reichs die Zeit gekommen, Land und Heimat zu verlassen. Für immer.

Es ist der Sommer von 1945. Dorothea ist zwölf Jahre alt. Eine halbe Stunde ist der Mutter Zeit gegeben worden, alles Nötige für die Töchter Johanna, Helga und Dorothea zusammenzusuchen. Dann müssen sie ihr Zuhause hinter sich lassen. An die Zeit vor der Vertreibung erinnert sich Dorothea Sauer ganz genau. Vieles ist ihr in Erinnerung geblieben. Und durch viele Besuche in ihrer alten Heimat hat sie viele Kindheitserinnerungen davor bewahren können, einfach zu verblassen.

„Es war die schönste Zeit“, sagt sie ein wenig wehmütig. Mit der schönsten Zeit verbindet sie auch einen Ort: Saabor. Geboren wird sie in Lodenberg, im Landkreis Grünberg. In Heide-Vorwerk, einem Wirtschaftsgut, das zum Schloss Saabor gehört, wächst sie auf. Der Vater ist seit zirka 1935 auf dem Gut angestellt, erinnert sich Dorothea Sauer. Nach 1941 ist Schloss Saabor der Wohnsitz der letzten deutschen Kaiserin Hermine.

Die Arbeit und der Einsatz ihres Vaters hat bei der Kaiserin tiefen Eindruck hinterlassen. Sie habe sich immer auf ihn verlassen können, so Sauer. Als ihr Vater in die Wehrmacht eingezogen werden soll, reklamiert die Kaiserin ihren wichtigsten Mann auf dem Gut. Der Vater ist für Hermine unabdingbar. Die zweite Einberufung 1942 konnte auch die Kaiserin nicht mehr verhindern.

Obwohl sie damals noch ein junges Mädchen war, zeichnen Dorothea Sauers Erinnerungen ein scharfes Bild der Vergangenheit – und von Hermine. Ihre Familie erlebt sie als „warmherzige, volks- und naturverbundene Frau“, sagt sie. Sie selbst hat sie hautnah kennengelernt. Die Mutter ist eines Tages mit ihr und den Geschwistern unterwegs, als ihnen die Kaiserin begegnet. Der kleinen Dorothea fällt sofort eine Brosche auf. „Es war ein Elefant aus Elfenbein“, sagt Sauer heute. Die Kaiserin bemerkt den interessierten Blick und nimmt das Mädchen auf den Arm. Dann habe sie zu ihr gesagt, sie solle sich die Brosche genau angucken, denn schenken könne sie sie ihr nicht, es sei ein Geschenk des Kaisers, erinnert sich Sauer lebhaft. „Diese Begegnung habe ich nicht vergessen“, sagt sie.

Längst ist Berlin gefallen, der Krieg verloren. Dorotheas Mutter glaubt noch, dass sich alles zum Guten wenden wird. Noch immer hat sie keine Nachricht von ihrem Mann. Aus Angst vor Rache fliehen viele Deutsche Richtung Westen. Der Ruf, welcher der Roten Armee vorauseilt, ist kein guter. Und plötzlich standen die Russen auch in Saabor. „Alexander war sein Name“, sagt Dorothea Sauer. Alexander ist Major. Er fragt Dorotheas Mutter, ob sie ein Zimmer für ihn hätte. Zum Ausspannen. Die Mutter verneint vehement, schließlich habe sie fünf Kinder und gar keinen Platz. Der Major zieht wieder ab. „Natürlich hätte er sich das Zimmer einfach nehmen können“, sagt Sauer. Und natürlich hatte die Mutter gelogen, sie waren ja nur zu dritt.

Als die drei Schwestern vom Spielen zurückkehren, steht auch der Major vor der Tür. Die Kinder erinnern sich an einen Satz, den der Vater bei Gelegenheit sagte: „Es gibt immer gute und schlechte Menschen auf der Welt.“ Sie sei zwar noch jung gewesen, so Sauer, aber sie und ihre Schwestern erkannten sofort, dass der Fremde ein guter Mensch war. Der Major fragt die drei Mädchen in einfachem Deutsch, wie viele Geschwister sie seien. Im Chor antworten sie: „Drei!“ Schließlich bekam Alexander sein Zimmer. „Geschlafen hat er dort jedoch nie“, sagt Dorothea Sauer. Lediglich seine Mütze habe er auf das Bett gelegt. Diese Mütze, die Mütze eines Majors, war für die Familie wie ein Rettungsanker. Denn die Russen krachten oft mit Säbeln in die Häuser, zu dritt, zu viert, zu sechst und suchten nach Wertgegenständen. Sobald sie jedoch die Mütze des Majors erblickten, machten die russischen Soldaten auf dem Absatz kehrt. Warum der Major die Mütze dort liegen gelassen hat, weiß Dorothea Sauer nicht.

In ihrem Wohnzimmer liegt die Karte noch immer ausgebreitet auf dem Teppichboden. Als sie vom Major erzählt, stehen ihr die Tränen in den Augen. Sie wolle nicht von den schlechten Zeiten erzählen, davon gab es reichlich, so Sauer. Sie wolle die guten Momente in Erinnerung behalten.

Zwei Wochen oder mehr ist Dorothea schließlich mit ihrer Mutter und den Schwestern unterwegs, vielleicht auch länger. Sie schlafen in Gräben, in Scheunen oder eben dort, wo es geht und sie gerade sind. Die Mutter hofft noch immer, sie würden bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Der Major wusste es besser, riet ihr, Bettzeug mitzunehmen und gab ihr 150 Mark Alliiertengeld.

Nach unzähligen Kilometern Fußmarsch landete die Familie irgendwann in einem kleinen Haus in Dubrau westlich von Vetschau im Spreewald. Die Mutter konnte später in der Küche von Schloss Dubrau arbeiten und mitsamt den Töchtern auf den Boden des Anwesens ziehen. Dorothea Sauer ist bis zur achten Klasse in Vetschau zu Schule gegangen. Der Pfarrer riet ihr, Lehrerin zu werden. Ein Onkel aus Westberlin ermöglichte ihr irgendwie, an der Arbeiter- und Bauern-Fakultät zu studieren. „Er sagte mir: Ich schmeiß dich rein, schwimmen musste selber“, so Sauer

1949 bekam Dorothea Sauers Mutter die Nachricht, dass ihr Mann 1945, knapp 200 Kilometer vom Heimatort Saabor entfernt, gefallen ist. Die Heimat wiederzusehen war ein sehnlicher Wunsch, der nicht mehr in Erfüllung gehen sollte.

Dorothea Sauer studierte schließlich in Greifswald und wollte nach dem Studium nach Cottbus. Als Geografie-Lehrerin landete sie schließlich in Babelsberg, lernte ihren Mann kennen und gründete eine Familie.

Ihr Blick schweift über die Landkarte. Ganz in der Nähe der roten Klebepunkte, ihrem Lebensweg, sind blaue Punkte aufgeklebt. Sie symbolisieren den Lebensweg ihres Mannes. Aber das ist eine andere Geschichte.

Björn Stelley

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