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Dorfkinder werden in einer Kampagne der Bundesregierung mit schönen Bildern verklärt, ihre Realität ist eine andere. Es fehlen Arzt und Apotheke, Internet und Infrastruktur. In Garrey demonstrierten sie gegen die Schließung der Apotheke.

© Joana Nietfeld

Ein Besuch in Garrey: Was Dorfkinder wirklich brauchen

Ostdeutsche Orte haben es seit dem Mauerfall schwer. Bundeslandwirtschaftministerin Klöckner mahnt zu positivem Denken. Doch den Bewohnern fehlen vor allem Arzt und Apotheke.

Garrey - Auf der Bühne steht noch ein Tannenbaum mit silbernem Lametta. An der Wand hängt eine alte DDR-Flagge mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Urbane Hipster tummeln sich zwischen den Dorfbewohnern an einer langen Tafel. Gleich soll es ein Gespräch geben, zwischen drei Forscherinnen und den Bewohnern von Garrey über die Erfahrungen der Menschen nach dem Mauerfall 1989.

Garrey liegt am Rande des Landkreises Potsdam-Mittelmark, direkt an der Grenze zu Sachsen-Anhalt. Der Ortsteil der Gemeinde Rabenstein/Fläming hat 300 Einwohner, zwei Kirchen und ein Funkloch. Bis in die Kreisstadt Bad Belzig braucht es eine knappe halbe Stunde mit dem Auto über ruckelige Straßen, die Landeshauptstadt Potsdam ist gute 60 Kilometer entfernt.

Die Wissenschaftler des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam untersuchen schon seit vier Jahren „Die lange Geschichte der ,Wende‘“. Sie bewerten die Zeit vor, während und nach dem Mauerfall und wollen die Lebensrealitäten der Menschen in Ostdeutschland wissenschaftlich erkunden. Nun treffen sie auf ihren Untersuchungsgegenstand: die Menschen, die den Umbruch erlebt haben.

Vortrag statt Gespräch

Das Dilemma der Dorfkind-Debatte, die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) ausgelöst hat, lässt sich anhand dieser kleinen Veranstaltung in Garrey gut erzählen. Klöckners Ministerium hatte jüngst Fotos veröffentlicht, die „positive Beispiele und innovative Ansätze der ländlichen Entwicklung“ zeigen sollen. In den sozialen Netzwerken gab es dafür viel Spott und Kritik.

Nun, beim Treffen der Wissenschaftler und Einwohner in Garrey, soll der Fokus auch mal weg von den urbanen Zentren, hin zu ländlichen Regionen gerichtet werden. Das angekündigte Gespräch mündet allerdings in einem langen Vortrag: Das Forscherteam berichtet von „Archivalien“, Forschungsmethoden und Verfahrensweisen. Im Oktober soll ein Buch über ihre Ergebnisse erscheinen. Sie freuen sich, dass Wissenschaft in dieser Form „ihren heißgeliebten Elfenbeinturm verlässt“ und stellen Fragen, wie zum Beispiel: „Ist die Wende eigentlich schon vorbei?”

Erfahrungen vom Dorf. Forscher vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung im Gespräch mit Dorfbewohnern von Garrey über ihre Erlebnisse auf dem Land aus Sicht der Bewohner.
Erfahrungen vom Dorf. Forscher vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung im Gespräch mit Dorfbewohnern von Garrey über ihre Erlebnisse auf dem Land aus Sicht der Bewohner.

© Joana Nietfeld

Die Antworten der etwa zwölf Anwohner und Anwohnerinnen, die aus der Region zu der Veranstaltung gekommen sind, holen sie aber erstmal nicht ein, sondern referieren weiter. Die, die es erlebt haben, hören höflich zu. Dabei hätten die Anwohner durchaus selbst etwas zu sagen. Richtig zu Wort kommen sie aber erst nach mehr als einer Stunde in den anschließenden Gesprächsrunden bei Bock- und Knackwurst. Und dabei wird klar: „Wende“, so wie die Forscher den Fall der Mauer und die Zeit danach genannt haben, ist hier nicht der bevorzugte Begriff.

Denn der stammt von Egon Krenz; der DDR-Funktionär nutzte den Begriff bei seiner Wahl zum SED-Generalsekretär 1989. Zwar hat sich Wende eingebürgert, für die Einwohner von Garrey strömt der Begriff aber eine unangemessene Passivität aus. „Wenn wir von der friedlichen Revolution sprechen, sehen wir Gesichter vor uns: die Menschen auf den Montagsdemos. Da steckt eine Aktivität dahinter“, sagt Gabi Eisenberger, in deren Pension die Veranstaltung stattfindet.

Das wichtigste Thema, das hier alle bewegt, ist sowieso ein anderes: die Apotheke. Die hat vor wenigen Wochen im Nachbarort Niemegk dicht gemacht, weil die Betreiberin keine Nachfolge finden konnte. Die nächste Apotheke ist nun noch weiter entfernt, in Bad Belzig.

Die ersten Kinder kommen zurück

Die Anwohner haben dagegen demonstriert. Die Schilder stehen noch in einem Hinterzimmer von Gabi Eisenbergers Pension. Da steht zum Beispiel: „Gesucht: Doc + DocMorris“, denn ein Arzt fehlt in der Region ebenfalls. Rosemarie Bergholz erzählt, dass mit Auflösung der LPG, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, 1990 viele Arbeitsplätze weggefallen seien. Seitdem seien die Strukturen in der Region kontinuierlich abgebaut worden. Bergholz hat eine kleine Ortschronik über die Zeit nach 1989 geschrieben und interessiert sich deshalb für die Veranstaltung der Forscher. Mittlerweile beobachtet sie, dass die ersten Kinder von Nachbarn zurückkehren, um im Ort Familien zu gründen.

Der Bürgermeister Siegfried Frenzel von Rabenstein/Fläming, zu der Garrey gehört, sagt: „Wir haben hier wenige Einwohner, aber riesige Flächen, die müssen wir alle vorhalten. Die finanzielle Zuweisung pro Kopf ist dafür viel zu gering“.

Anke Frenzel wünscht sich dringend eine Dorfschule. Für einen Schulweg von sieben Kilometern müsse ihr Sohn pro Strecke 45 Minuten im Schulbus sitzen, weil alle Dörfer der Reihe nach abgeklappert werden. Das sei vergeudete Zeit für ein Dorfkind.

Eine Kritik an der Dorfkinder-Kampagne ist auch hier vor Ort, dass sie die Verantwortlichkeiten verkehrt. Nicht die Menschen vor Ort müssten sich kreative Lösungen für fehlende Infrastruktur oder eine unzureichende medizinische Versorgung einfallen lassen – sondern die Politik müsse Strukturmaßnahmen in ländlichen Regionen fördern.

Maßnahmen zur Entwicklung und gezielten Stärkung von Dörfern soll nun ein nationales Forum für die ländlichen Räume erarbeiten. Initiiert von Klöckners Landwirtschaftsministerium. Eine Konferenz in diesem Rahmen gab es bereits während der Internationalen Grünen Woche, die am vergangenen Sontag zu Ende ging. Die Konferenz fand auch auf dem Messegelände in Berlin statt. Dabei wäre das Forum wohl besser bei den Menschen vor Ort aufgehoben – zum Beispiel im Dialog in Garrey.

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