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Potsdam-Mittelmark: Die Nackten vom Zernsee

Vor 100 Jahren wurde in Werder ein Aktmagazin produziert. Der Herausgeber lud offenbar zu FKK-Festen ein

Werder (Havel) - Sie stand nicht nur nackt und statuettenhaft da, sie bewegte sich, ja sie tanzte. Als die Tänzerin Olga Desmond am 19. Mai 1908 in Berlin erstmals ihren „Schwertertanz“ aufführte, war das ein ausgewachsener Skandal. Nur mit einem Diadem und einem schmalen Metallgürtel bekleidet, der kaum das Geschlecht verdeckte, wirbelte sie durch blinkende Lanzenklingen, die aus dem Bühnenboden aufragten.

Dass sich entkleidete Schönheiten an besonderen Theaterabenden zu mythologischen Standbildern formierten, war das interessierte Publikum der Kaiserzeit inzwischen gewöhnt. Die Modelle waren so geschminkt, dass sie tatsächlich fast wie Statuen aussahen – vor jeder neuen Pose senkte sich schicklich der Vorhang. Desmonds Tanz war eine Provokation ersten Ranges. Die Presse reagierte mit gedrechselten Ovationen bis hin zu angewiderten Verrissen.

Für den Organisator des Abends, Karl Vanselow, und seine Zeitschrift „Schönheit“ durfte es so oder so der Durchbruch gewesen sein. Der Schriftsteller, Verleger und Fotograf hatte schon längere Zeit in Berlin seine sogenannten „Schönheit-Abende“ abgehalten, auf denen Aktbilder auf Leinwände projiziert, Lyrik vorgetragen und die weibliche und männliche Nacktheit an lebenden Beispielen gefeiert wurde – vermutlich auch, um für seine Zeitung zu werben.

Das muss aufgegangen sein, die „Plastischen Improvisationen“ wurden ein Erfolg und mit Olga Desmond gingen sie deutschlandweit auf Tournee, auch eine Aufführung in St. Petersburg ist dokumentiert. Die Zeitschrift „Schönheit“ wird bei den Veranstaltungen ausgelegen haben. Die Abende gab es offenbar bis 1909, am Ende nur für Mitglieder eines exklusiven Klubs.

Vanselow konnte sich bald darauf eine fast noch neue Villa mit ausgedehntem Garten am Zernsee in Werder leisten. Dass das hinfällige Haus Am Zernsee 4 auch heute noch als „Villa Schönheit“ bekannt ist, ist Vanselows damaligen Aktivitäten in der Stadt zu verdanken.

Der 1877 geborene Lebemann war bereits durch seine Gedichte und seine verlegerischen Aktivitäten bekannt geworden, als er im Jahr 1902 mit der Herausgabe der Monatszeitschrift „Die Schönheit“ begann. „Alles wollen wir pflegen, was das Dasein reizvoll, würdig und sonnig macht: Schönheit des Leibes, der Kleidung, der häuslichen und öffentlichen Umgebung, Liebe und Freude, Tanz und Spiel, Kunst und schöne Bildung, Gesundheit und Natürlichkeit, sittliche und gesellschaftliche Verjüngung.“ So schreibt der Herausgeber im Editorial der ersten Ausgabe. Der Berliner Roland Schnell vergleicht die Zeitschrift mit heutigen Lifestyle-Magazinen, die wie der „Playboy“ erotisch verputzt sind.

Der 59-Jährige hat zu Vanselow intensiv recherchiert, ein Rechercheprojekt im Internet aufgebaut, einen Wikipedia-Artikel verfasst und ihn dem Vergessen entrissen. Alles, was über Vanselow heute bekannt ist, hat Roland Schnell aus Archiven, Bibliotheken, Gesprächen mit Zeitzeugen und Familienmitgliedern und aus dem Internet zusammengetragen. So auch dessen denkwürdigen Jahre am Zernsee in Werder.

Denn zwischen 1910 und 1914 wurde die Zeitschrift „Schönheit“ und auch andere Vanselow-Publikationen von Werder aus herausgegeben. Im ausgedehnten Garten der Villa ließ der fotografisch versierte Unternehmer seine Modelle an Obstbäumen, Gartenwegen, Laubengängen und am Wasser posieren. Die in der „Schönheit“ publizierten Motive tragen Titel wie „Süße Früchte“, „Unter Blüten“ oder „Mittagsstille“. An die Models kam er offenbar durch Castings, an andere Aktbilder auch durch Preisausschreiben „zur Erlangung künstlerisch wertvoller Akt-Photografien“.

Die Aktfotos erschienen in dem Journal dann zwischen wohlfeilen Gedichten über den Sommer, Schwäne und Mädchenglieder und Artikeln über moderne und korsettfreie Frauenbekleidung, Berichte aus exotischen Ländern und Empfehlungen zur Villeneinrichtung. Unzüchtige Darstellungen gab es nicht, auch die „Schwüle des Schlafzimmers oder Salons“ wurde tunlichst vermieden. Mit der Nacktheit sollte ja immer auch die Natur dargestellt werden.

Denn Vanselow fühlte sich der Lebensreformbewegung verbunden, die der Industrialisierung ein „Zurück zur Natur“ in allen Lebensbereichen entgegensetzte. Mit dem Jugendstil-Zeichner Hugo Höppener alias Fidus, der mit seinem „Lichtgebet“ der Bewegung ihr Leitbild gegeben hatte, war Vanselow eng befreundet. Fidus illustrierte auch viele seiner Publikationen, die „Schönheit“ und auch „Geschlecht und Gesellschaft“, einem zweiten, seltener erscheinenden Magazin Vanselows, das sich der sexuellen Aufklärung seiner Leser widmete. Er wurde dafür der Verbreitung unzüchtiger Schriften beschuldigt, vom Berliner Landgericht aber freigesprochen.

Aus der Lebensreform-Bewegung ging auch die Freikörperkultur hervor, und möglicherweise wurden in der Villa Schönheit in Vanselows Jahren FKK-Abende abgehalten. Als Roland Schnell unlängst einen Vortrag beim Werderaner Heimatverein hielt, berichtete eine ältere Zuschauerin über den Vater eines Klassenkameraden, der bei einem solchen Abend mit einem Bandoneon aufgetreten war, unbekleidet wie alle Musiker – und natürlich wie alle Gäste.

1914 starb Vanselows Mutter, der Erste Weltkrieg begann und aus unbekannten Gründen musste er seinen Schönheit-Verlag verkaufen, Ende der 20er-Jahre dann auch seine geliebte Villa am Zernsee. Die Gründe konnte Roland Schnell nicht mehr recherchieren. Die „Schönheit“ wurde noch einige Jahre im Dresdner Verlag „Richard A. Giesecke“ veröffentlicht.

Vanselow verherrlicht 1915 derweil in einem Gedichtband mit dem Titel „Das neue Reich“ den Krieg und Kaiserreich, andere noch geplante Publikationen kommen nicht mehr zustande. Er wird als Telegrafist zum Kriegsdienst herangezogen. Über die Zeit danach ist wenig bekannt – sicher ist, dass er sich der Welthilfssprache Esperanto näherte.

Roland Schnell konnte die Spur nach dem 2. Weltkrieg wieder aufnehmen, als Vanselow als Esperanto-Dichter wieder Bekanntheit erlangte. 1959 verstarb Karl Vanselow in Berlin. Sein Image als Lebemann, Frauenversteher und Kosmopolit soll er bis zum Schluss gepflegt haben – und sich damit auch Feinde bei der von ihm mitbegründteten Berliner Esperanto-Liga gemacht haben, die einen launigen Nachruf hinterherschickte.

Auch Roland Schnell kannte den Namen aus der Esperanto-Szene, in der er sich selbst bewegt. Vor einigen Jahren dann sah der Diplomchemiker und Fachjournalist in einem Tagesspiegel-Bericht ein Titelblatt der „Schönheit“ abgebildet, es ging um eine Lebensreform-Ausstellung in Darmstadt. Auf dem Titelblatt tauchte der Name Karl Vanselow als Herausgeber auf und Schnell wollte wissen, ob es sich um denselben Vanselow handelt, den er als Esperanto-Dichter kennt. Als er dabei mitbekam, dass Vanselow einmal Am Zernsee 4 gelebt hatte, wusste er, dass er sein Thema gefunden hatte: Roland Schnell hat auf dem Nachbargrundstück sein Boot zu liegen. Die Villa soll voriges Jahr an einen Hambuger versteigert worden sein.

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