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Das 137. Baumblütenfest in Werder (Havel): Der Exzess bleibt aus

Das Baumblütenfest lockt auch viele Gäste an, die Obstwein lieber in Maßen statt in Massen trinken. Unser Reporter war auf der anderen Tresenseite mit dabei - und schenkte Obstwein aus.

Von Enrico Bellin

Werder (Havel) - Das geht ja gut los: Als sich der Journalist am Samstag um 13.30 Uhr am Werderaner Gutshof vom Fahrrad schwingt, tappst er direkt in ein frisches Kaugummi am Boden. Da wollte wohl jemand direkt vor der Obstweinmeile seinen Mund für das süße Gesöff freibekommen. Nach kurzem Taschentucheinsatz geht es langsamen, klebrigen Schrittes in Richtung Insel zum neuen Arbeitsplatz auf Zeit: Dem Obstweinstand von Toni Geißhirt, keine hundert Meter vom Marktplatz entfernt und so mitten im Herzen des Baumblütengetümmels.

Vor seinem Stand tauchen Fragezeichen vor dem geistigen Auge auf: Wie kommt man da rein? Alle Wände des drei mal drei Meter großen Zeltes sind komplett mit Tischen vollgestellt, auf denen acht große Weinballons und mehrere Dutzend volle Weinflaschen stehen. Ronja Uhlig, die Kollegin für die nächsten zweieinhalb Stunden, weist an die rechte Seite und öffnet einen Reißverschluss in der Zeltplane. Unterm Tisch hinduchrobbend geht es ins Innere des Obstweinpavillons, wo der Notizblock gegen die Kittelschürze getauscht wird. Seit neun Uhr morgens bereitet Ronja den Stand schon vor, für die 18-jährige Potsdamerin ist es eine doppelte Premiere: Das erste Mal als Verkäuferin und das erste Mal überhaupt auf dem Baumblütenfest. Warum nicht schon früher? „Meine Eltern hatten einen Obstgarten in Werder, zu dem wir mit Zug und Rad gefahren sind. Als Achtjährige war mir das ziemlich unangenehm, da abends mit den ganzen Betrunkenen am Bahnhof und im Zug.“ Die Erfahrung habe lange angehalten.

Während des Umzuges wird heute kaum getrunken, Zeit genug also für eine Einweisung und einen kurzen Plausch. Ronja ist eine Freundin von Toni Geißhirt, derzeit machen beide Abitur an der Potsdamer Voltaire-Gesamtschule. Die nächste Prüfung steht erst in vier Wochen an. Zeit genug also, bis zum kommenden Sonntag hinterm Tresen zu stehen. Vor dem erwarteten Ansturm nach dem Festumzug nutzt sie die Gelegenheit, Bedürfnissen nachzukommen. Da kommt die erste Überraschung: Extra-Toiletten für Mitarbeiter gibt es nicht, sie müssen sogar die Pipi-Gebühr von 50 Cent zahlen.

Es gibt viel zu tun

Überraschung Nummer zwei: Der erwartete Ansturm nach dem Umzug bleibt aus. Die dürstenden Kehlen kommen kontinuierlich an die Tränke. Schlangen vorm Stand gibt es nicht, trotz des durchaus obstweintauglichen Wetters mit 18 Grad und leichter Bewölkung. Trotzdem gibt es viel zu tun: Wenn gerade kein Kunde dasteht, müssen Flaschen auf Vorrat abgefüllt werden. Nebenbei kann man mal kurz von der mitgebrachten Stulle abbeißen oder einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen. Den ständigen, süßlichen Obstweingeruch in der Nase mag Ronja zwar, „aber nach dem Fest werde ich da sicherlich lange Zeit nicht rankommen“.

Schon nach einer halben Stunde im Stand merkt man: Verkäufer brauchen eine feste Stimme, schließlich muss man beim Kundengespräch die ständige Musik vom Marktplatz übertönen. Auch starke Oberarme sind von Vorteil: Die 30-Liter-Glasblasen, aus denen die meisten Weinsorten verkauft werden, müssen ständig nachgefüllt werden. Dafür stehen mehrere Dutzend Zehn-Liter-Kanister im vollen Verkaufszelt. Die muss man aber mehrere Minuten in die Höhe stemmen, ehe sie ihren Inhalt preisgegeben haben. Wer das den ganzen Tag gemacht hat, kann abends die Arme kaum mehr heben.

Die Gäste trinken mit Bedacht

Nach einer Stunde Verkauf kommt die Erkenntnis, dass der Exzess ausbleibt: Die Festgäste trinken den Obstwein eher mit Bedacht und wollen verschiedene Sorten kosten. Der Wein zu zwei Euro im Becher verkauft sich deutlich besser als die Literflasche zu sieben Euro, vom Sonderangebot – beim Kauf von fünf Flaschen eine Flasche gratis – macht bis 16.30 Uhr niemand Gebrauch. Jugendliche sieht man am Stand gar nicht, was auch an den Preisen liegen könnte. Industrieobstwein kostet im Supermarkt die Hälfte.

Das Publikum auf der Insel ist bis zum Nachmittag generell eher gesetzt. Genüsslich probieren die Gäste die insgesamt 15 Weine durch, die Himbeere ist am Samstag mit mehr als 50 Litern in zweieinhalb Stunden der absolute Renner. Dafür und für seinen Mehrfruchtwein hat der Standchef die Goldene Kruke gewonnen. An Exoten wie Robinie oder Pfingstrose wagen sich nur wenige Gäste. Eine Sechsergruppe steht insgesamt etwa eine Stunde lang am runden Tisch neben dem Stand und bestellt von jeder Sorte einen Becher, der dann die Runde macht. Ergebnis: Die blumig-süße Pfingstrose, die geschmacklich eher Likör ähnelt, ist klarer Favorit.

Ein Dauerlächeln hinter dem Tresen

Einem anderen Herrn schmeckt der Robinienwein am besten, der in seiner kräftigen Süße an Ahornsirup erinnert. Warum er trotzdem Himbeere kauf? „Naja, man entscheidet ja nicht allein“, sagt er und rollt mit den Augen in Richtung seiner Frau. Angesichts solcher Geschichten und ausnahmslos freundlicher Kunden wird man sein Dauerlächeln hinterm Tresen nicht los.

„Bis auf die Musikauswahl ist hier alles super“, findet auch Ronja. Die größten Hits der 80er, 90er und von heute nerven auf Dauer, zumal man sie ab dem Nachmittag in verschiedensten mitgegrölten Versionen dargeboten bekommt. Trotzdem: Beim Ablegen der Kittelschürze und der Nachfrage vom Chef, ob man 2017 gern wiederkommen würde, kommt die Antwort ohne Zögern: Ja.

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