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Der 49-jährige Guido Mewis, der heute in Bergholz-Rehbrücke lebt, ist zunächst mit einem provisorischen Reisepass für Bürger der DDR aus Rumänien geflohen. In Ungarn gelang ihm die Flucht nach Österreich. Zuvor erhielt er von der Botschaft der BRD in Budapest noch einen Reisepass.

© Andreas Klaer

30 Jahre Mauerfall: Mit einem Sprung aus dem Zug in die Freiheit

Guido Mewis reist im Sommer 1989 nach Bukarest. Fliehen will er eigentlich nicht. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und er kämpft um sein Leben. 

Von Eva Schmid

Bergholz-Rehbrücke - Es ist eine Entscheidung von wenigen Sekunden. Eine Stunde vor Abfahrt des Zuges geht Guido Mewis zur Post. Das Einschreiben, das dort auf ihn wartet, hätte er nicht annehmen sollen, sagt der heute 49-Jährige im Rückblick. Denn alles, was danach passiert, wird sein Leben schlagartig verändern. 

Es ist Juli 1989. Der Brief enthält eine Blechmarke der NVA, in drei Wochen soll er zum Dienst antreten. Ihm wird verboten, das Land zu verlassen. Und das, obwohl schon im Mai auf Demonstrationen in der DDR das Recht auf Ausreise gefordert wird und bereits mehr als 100.000 Menschen auf die Genehmigung ihres Ausreiseantrags warten.

Er sagte offen seine Meinung, seine Familie schützte ihn

In der einen Hand der Brief, in der anderen die Zugfahrkarte nach Bukarest. Seine erste große Reise außerhalb des Landes, beantragt ein Jahr im Voraus. Die Abschlussprüfungen an der Medizinischen Fachschule hat er hinter sich, das Abitur der Abendschule so gut wie in der Tasche. „Ich war 19 und stieg in den Zug.“

Die Fluchtgeschichte von Guido Mewis, der heute in Bergholz-Rehbrücke lebt und den die PNN erst vor einigen Monaten aus einem anderen Anlass vorgestellt haben, liest sich wie das Drehbuch eines Spielfilms. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der in der DDR immer wieder aneckte, der nicht aufhören konnte, sein Meinung öffentlich zu äußern – auch wenn ihm das oft viel Ärger einbrachte. Seine Kindheit und Jugend verläuft turbulent: Mewis, geboren 1969 in Ostberlin, ist mit 16 Jahren bereits 14-mal umgezogen, hat acht Schulen besucht. 

Die zwei Reisepässe  von Guido Mewis, einer aus der DDR, einer aus der BRD. 
Die zwei Reisepässe  von Guido Mewis, einer aus der DDR, einer aus der BRD. 

© Andreas Klaer

Er wächst mit seiner Mutter auf, die beruflich viel in der DDR herumkommt. „Ich hatte immer jemanden, der mich geschützt hat.“ Ihn schützt vor allem seine einflussreiche Familie. Sein Großvater Karl Mewis war Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, SED-Funktionär und Vorsitzender der Staatlichen Plankommission. Sein Uropa, Franz Dahlem, Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees, war Kaderchef der SED. Seine Tante ist Abgeordnete der Blockpartei LDPD, der Onkel Offizier im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen. Seine Mutter, wie fast die gesamte Familie, ist in der SED aktiv.

Stasi: "Ab jetzt Mund halten"

Auch Mewis ist politisch engagiert, aktiv in der FDJ-Leitung. „Wir wollten mehr Demokratie und Mitspracherecht.“ Als Teenager liest er den Sputnik, ist von Michail Gorbatschow fasziniert. Vier Mal wird er gefragt, ob er für die Stasi arbeiten will – er lehnt ab, jedes Mal. Die DDR ist zwar seine Heimat, doch er empfindet sie als spießig und miefig.  Kurz vor seiner Abreise nach Bukarest hat Mewis mal wieder – wie so oft – den Bogen überspannt, in seiner Fachhochschule eine Versammlung einberufen und sich aufgeregt, warum seine Freundin und Kommilitonin monatelang verschwunden war und jetzt wieder auftauchte, mit der Bitte sie zu reintegrieren. 

Mewis wird daraufhin ins Stasigefängnis in Hohenschönhausen gebracht. Ihm wird deutlich gemacht, dass bisher ein Auge für ihn zugedrückt worden sei, „um meiner Familie willen“. Damit sei jetzt aber Schluss, niemand werde ihn mehr schützen. Ab jetzt soll er den Mund halten. Im Jahr vor dem Mauerfall. 

Im Zug nach Rumänien fühlt sich der 19-Jährige erleichtert, beim Passieren der tschechischen Grenze ist nichts passiert. Er wird nicht abgefangen. Er fühlt sich frei. Die Euphorie hält nur kurz, parallel zu den politischen Ereignissen beginnt sich auch das Leben von Guido Mewis zu überschlagen. 

Es beginnt damit, dass sein Freund, mit dem er nach Bukarest fährt, kurz nach der Ankunft spurlos verschwindet. Von ihm wird er nie wieder etwas hören. Guido Mewis wird blass, als er realisiert, dass er nun alleine ist, doch dann beginnt er es zu genießen. Der Gedanke zu fliehen ist da noch weit entfernt, er will wieder zurück in die DDR, seine Heimat.

Mewis kommt in die Fänge der rumänischen Geheimpolizei

Das Drama beginnt am Bahnhofsschalter. Als er seine Rückfahrkarte kaufen will, passt ihn die Securitate ab, Rumäniens gefürchtete Geheimpolizei. Was danach passiert, lässt Guido Mewis Herz auch 30 Jahre später noch schneller schlagen. Seine Wangen werden rot. Er muss tief durchatmen bevor er beginnt, von den Grausamkeiten, die ihm widerfahren sind, zu erzählen. Jahrelang lassen ihn die Bilder aus dieser kurzen Zeit nicht schlafen. Er ist traumatisiert. 

Mitarbeiter der Securitate nehmen ihn in Bukarest mit und sperren ihn in eine Zelle ein. Er weiß nicht, was mit ihm geschehen wird. In der Zelle ist ein gleichaltriger junger Mann. Nach mehreren Stunden kommen zwei Schergen in die Zelle, einer zeigt auf Guido Mewis, der andere auf den jungen Mann – am Ende wenden sie sich dem Fremden zu, den sie zu Tode folterten. Vor den Augen von Guido Mewis. „Ich werde nie seinen Gesichtsausdruck vergessen.“

Drei Tage ist Mewis irgendwo in Bukarest inhaftiert, am Ende wird er von der Geheimpolizei zum Bahnhof zurückgebracht. Auf dem Bahnsteig bricht er zusammen, aus Erschöpfung. Er landet auf einem Müllhaufen am Bahnhof. „Die dachten, ich sei tot.“ Der 19-Jährige nimmt alle seine Kräfte zusammen und will jetzt nur noch raus aus diesem Land, das für ihn vor wenigen Tagen noch für Freiheit stand. Er rollt von dem Müllberg herunter, robbt unauffällig auf dem Boden um die nächste Ecke, und sieht die italienische Botschaft – seine Hoffnung auf Sicherheit. Doch das Tor ist verschlossen, entkräftet bricht er erneut vor der Botschaft zusammen und bleibt liegen. 

Seine Rettung ist eine rumänische Ärztin, die zu dieser Zeit Straßenkindern hilft. Sie gibt ihm zu essen, nimmt ihn mit zu sich nach Hause. „Ich sagte ihr, ich komme aus Westdeutschland.“ Das war Ende Juli 1989. Zu einer Zeit, als sich in mehreren diplomatischen Vertretungen der Bundesrepublik im Ostblock, darunter in Budapest und Ost-Berlin, mehr als 150 ausreisewillige DDR-Bürger aufhalten, die ihre Ausreise in den Westen auf diese Weise erzwingen wollen. 

In die Botschaft der Bundesrepublik in Bukarest kommt Guido Mewis jedoch nicht rein. Auch nicht in die Botschaft der DDR-Auslandsvertretung. Dort an der Pforte platzt ihm der Kragen, er weiß sich nicht zu helfen und droht mit seiner Familie. Plötzlich gehen die Türen auf. Es gibt Essen für ihn, neue Kleider, und eine Botschaftswohnung. Kurz darauf begleiten ihn zwei Stasi-Mitarbeiter zurück in die DDR. Er bekommt einen provisorischen Reisepass, mit dem er eigentlich das Land nicht verlassen kann. 

„Ich muss der Stasi dankbar sein“, sagt er. Doch die Dankbarkeit hat schnell ein Ende. Als der Zug nach Budapest einfährt, stellt sich Guido Mewis vor, was ihm Zuhause blüht: Als Fahnenflüchtiger muss er ins Militärgefängnis in Schwedt, seine Träume von einem Medizinstudium zerplatzen. Er nutzt einen günstigen Moment, kurz vor der Einfahrt nach Budapest springt er aus dem Zug. Und rennt um sein Leben. 

Seine Rettung: Das Notlager der Malteser in Budapest

Atemlos kommt er in Sicherheit zum Stehen. Es ist ein Wink des Schicksals, dass er einen Handzettel auf Deutsch auf der Straße findet. Darauf informieren die Malteser über ein Notlager für DDR-Bürger, dazu eine Wegbeschreibung zu dem Lager im Garten der Zugliget-Kirche. Guido Mewis wird dort zwei Wochen lang unterkommen. 

Das Zeltlager wird im Spätsommer 1989 von einer deutsch-ungarischen Malteserin eingerichtet, nachdem sie von der dramatischen Situation der in Budapest gestrandeten DDR-Bürger hört. So viele sind es mittlerweile, die als Urlauber getarnt fliehen wollen, dass die westdeutsche Botschaft wegen Überfüllung schließen muss. 36 000 Ungarn-Urlauber versuchen, durch ihr Ausharren in der Botschaft ihre Ausreise in den Westen zu erzwingen. Die Malteser eröffnen daraufhin drei Notlager in Budapest. 

In den zwei Wochen, in denen Guido Mewis dort ist, leben mit ihm in den weißen Zelten im Pfarrgarten rund 600 Menschen, darunter viele Familien mit kleinen Kindern. „Halbstündlich hangen wir am Radio.“ Insgesamt fliehen im Sommer und Herbst 1989 mehr als 55 000 DDR-Bürger über die Zeltlager rund um die Zugliget-Kirche in die Bundesrepublik Deutschland, bevor wenig später auch in Deutschland die Grenze fällt.

Unter ihnen ist auch Guido Mewis. Er macht sich mit seinem Kumpel aus dem Notlager, „Lutz aus Halle“, auf den Weg. Das Lager sollen sie nur in größeren Gruppen verlassen, vor den Toren steht ein Bus der Stasi, die offenbar noch versucht, Staatsflüchtlinge abzufangen. 

Die zwei jungen Männer verstecken sich im  August 1989 in einem österreichischen Blumentransporter, der sie in die Nähe der Grenze bringt. Sie suchen sich ihren Weg durch Felder zu der Grenzanlage. Der Mond scheint hell. Lutz aus Halle will immerzu umdrehen.  Jeden alarmauslösenden Stolperdraht nimmt er mit. Guido Mewis ist genervt. Die Hunde beginnen zu bellen. Die Grenzer beginnen mit Taschenlampen die Anlage abzusuchen. Guido Mewis und sein Kumpel tasten sich vor, erreichen den Zaun, klettern hinüber. 

Er kehrt aus Amerika in den Osten Deutschlands zurück, aus Heimweh

Sie sind im Westen, in einem kleinen österreichischen Kaff nahe der Grenze. Erneut verliert Guido Mewis einen vermeintlichen Freund, nach der Nacht in einem Wirtshaus ist auch Lutz spurlos verschwunden. Mewis sucht sich seinen Weg nach Wien, von dort geht es nach Köln, dann in das Übersiedlerlager nach Gießen und am 11. September nach Westberlin. „Bei den Alliierten habe ich jeden einzelnen Stasi-Spitzel angezeigt“, sagt er. Auch seine Familie. Mewis bekommt in Westberlin Hilfe vom Neffen der rumänischen Ärztin, der in der Stadt arbeitet. 

Den Mauerfall am 9. November erlebt Guido Mewis von Westberlin aus. Er bricht den Kontakt zu seiner Familie ab, lebt danach für knapp fünf Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika. Er will dort Medizin studieren, aber das kann er sich nicht leisten. „Es klingt absurd, aber mich packte irgendwann das Heimweh“, sagt Mewis. Das war 1994. Er kehrt zurück, in den Osten des nun vereinten Deutschlands. 

Seit 24 Jahren versucht er, seine Vergangenheit aufzuarbeiten: die Verbindung seiner Familie zur Stasi und wer seine vermeintlichen Freunde wirklich waren. Ihm wird immer wieder gesagt, dass es von ihm keine Unterlagen gibt. Als er vor einem halben Jahr erneut anfragt, heißt es, dass man doch etwas gefunden hätte. In zwei Jahren soll es soweit sein, dann soll er Einsicht in seine Stasiakte bekommen.

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