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Was WISSEN schafft: Italienische Hexenjagd

Warum die Medizin auf Tierversuche nicht verzichten kann

Mörder“ steht auf dem Poster. Darüber prangt in großen Lettern ein Name, darunter ein Foto mit Adresse und Telefonnummer. Es ist kein Fahndungsplakat der Polizei. Vielmehr handelt es sich um Angriffe italienischer Tierschützer auf einen Biologen, einen Physiologen, einen Pharmakologen und einen Parasitologen der Universität Mailand. Der Pharmakologe etwa habe über 30 Jahre lang Tiere gefoltert und getötet, man solle diesen Henker – und die anderen – wissen lassen, was man davon hält.

Die Hexenjagd ist das neueste Kapitel einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Tierversuchsgegnern und Forschern in Italien. Im April 2013 brachen Tierschützer in Labore der Universität Mailand ein, nahmen 100 Mäuse und Kaninchen mit und zerstörten Experimente, indem sie Tiere und Käfigbeschriftungen vertauschten.

Die Forscher wehren sich gegen solche Angriffe und gegen ein neues, äußerst restriktives Tierschutzgesetz. Sie erklären der Öffentlichkeit, dass sie mit den Versuchen grundlegende Mechanismen in Gesundheit und Krankheit analysieren, wie die Experimente in den unterschiedlichen Fachgebieten ablaufen und wie klinische Studien für die Zulassung von Medikamenten aufgebaut sind.

Ende Dezember mischte sich eine Studentin aus Padua in die Debatte ein. Sie leidet an vier Erbkrankheiten und braucht ständig ein Beatmungsgerät. Mehrere Monate pro Jahr verbringt sie im Krankenhaus. „Ich bin 25 Jahre alt geworden dank Forschung, die Tierversuche umfasst“, schrieb sie auf Facebook. „Ohne sie wäre ich mit neun Jahren tot gewesen. Sie hat mir eine Zukunft geschenkt.“

Es folgten rund 30 Todeswünsche und 500 Beleidigungen: „Du kannst morgen sterben. Ich würde meinen Goldfisch nicht für dich opfern“, schrieb einer. „Ich würde an Menschen wie dir Versuche machen.“ „Wenn du als Kind gestorben wärst, hätte es niemanden interessiert.“ Die junge Frau war geschockt. „Ich weiß nicht, auf welchem Planeten diese Menschen leben“, sagte sie unter Tränen im italienischen Fernsehen.

Das Mitgefühl mit jeglicher Kreatur, das die Tierschützer für sich reklamieren, hat offenbar Grenzen. Wehe, jemand verteidigt die Gegenseite. Nicht einmal Schwerkranke dürfen dann mit Respekt rechnen.

Halten sich die, die so schreiben, für unverwundbar? Es gibt in der Apotheke keine Kopfschmerztablette, deren Sicherheit und Wirksamkeit nicht zuerst in der Zellkultur, dann im Tierversuch und schließlich am Menschen überprüft worden ist. Das ist Gesetz. Mit gutem Grund.

Thalidomid (besser bekannt als das Schlafmittel Contergan) zum Beispiel wurde zuerst am Menschen und später, nach der Marktrücknahme 1961, an Tieren getestet. Da waren bereits tausende Kinder mit schweren Behinderungen zur Welt gekommen. Die bittere Erfahrung lehrte Forscher, dass neue Wirkstoffe vor der Zulassung ihre Unbedenklichkeit unter anderem bei trächtigen Tieren unter Beweis stellen müssen.

Tierversuche sind nicht perfekt. Krebs und Alzheimer sind bei der Maus längst heilbar, beim Menschen dagegen versagt ein Wirkstoff nach dem anderen. Keiner weiß, woran es liegt. Vielleicht sind die schuhschachtelgroßen Plastikkäfige, Futter ohne Ende und keinerlei Ablenkung derart unnatürlich für die Mäuse, dass sie – faul und überfüttert – einen krankhaft veränderten Stoffwechsel haben. Eine artgerechtere Haltung wäre im Sinne der Forschung.

Vielleicht ist der Fokus auf die Maus zu eng. Es war nach dem Menschen das zweite Säugetier-Erbgut, das entziffert wurde. Mittlerweile kann man fast jedes Gen ausschalten oder manipulieren, seine Funktion erforschen und menschliche Krankheiten nachstellen. Trotzdem bleiben mit der Maus-Monokultur viele Fragen unbeantwortet.

Alternativen sind nötig. 2013 haben mehrere Teams verkündet, dass sie aus Stammzellen Mini-Gehirne, Mini-Nieren oder Mini-Lebern gezüchtet haben. Es geht nicht um transplantierbare Organe. Vielmehr könnten Ärzte so die Krankheit ihrer Patienten – mit allen Besonderheiten – in der Petrischale untersuchen und Medikamente gezielt testen.

Tierversuche werden dadurch nicht überflüssig. Aber wenn man zumindest beim Schritt von der Zellkultur zum Tier besser siebt, kostet das Forscher weniger Zeit, Geld und Nerven – und es könnte etlichen Tieren Leid ersparen.

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