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Von Malte Lehming: In tiefer Sorge ums Übermorgen

Das Klima muss geschützt werden – aber wie radikal und wie ausschließlich?

Die Sorge um das Wohlergehen künftiger Generationen zeugt von Moral. In der Fixierung auf ein fernes, großes Übel kann der sich Sorgende aber auch den Halt in der Gegenwart verlieren. Dann neigt er dazu, zum Wohle künftiger Generationen die jetzige zu opfern.

Bertrand Russell war Literaturnobelpreisträger, Philosoph, Friedensaktivist – und ab 1957 Präsident der Pugwash-Konferenz, einem internationalen Zusammenschluss namhafter Wissenschaftler, für die die Existenz thermonuklearer Waffen eine Überlebensfrage der Menschheit war. Neun Jahre zuvor, im Mai 1948 – Kalter Krieg, Berlin-Blockade –, schrieb Russell an einen Freund. Selbst wenn Westeuropa total zerstört und die Intelligenz in Arbeitslager gesteckt würde, hieß es in dem Brief, müsse der Kommunismus besiegt werden.

Im November 1948 präzisierte Russell seine Idee. Er veröffentlichte einen Aufsatz mit dem Titel „Towards a Short War with Russia“. Seine Argumentation war einfach: Weil die Sowjetunion bald Atomwaffen haben würde, es dann zu einem Wettrüsten mit dem Westen käme und schließlich zu einem dritten Weltkrieg, müsse jetzt ein präventiver Atomkrieg gegen das Sowjetreich geführt werden.

Zum Glück griff keiner Russells Vorschlag auf. Seine Grundhaltung indes, zum Wohle künftiger Generationen einen Teil der jetzigen zu opfern, erfuhr 35 Jahre später, in abgewandelter Form, eine Neuauflage unter der Parole „lieber rot als tot“, also: Besser heute kommunistisch werden, als morgen, nach einem Atomkrieg der Supermächte, nicht mehr zu leben.

Was Russell und Pugwash einst, sind in gewisser Weise Al Gore und der Weltklimarat heute. Nur das Thema hat sich geändert. Statt der Nuklearwaffen wird die globale Erderwärmung zur Überlebensfrage der Menschheit erklärt. Wieder gelangen bedeutende Wissenschaftler, die für falsche Prognosen ja nie zur Rechenschaft gezogen werden, zu einer düsteren Prophezeiung: Mit einer Wahrscheinlichkeit von rund neunzig Prozent sei die bislang registrierte Erwärmung von 0,74 Grad Celsius auf menschliche Einflüsse zurückzuführen. Je nach Modell müsse mit einem Anstieg des Meeresspiegels bis zum Jahr 2100 um 25 bis 58 Zentimeter gerechnet werden. Ein Inselstaat wie die Malediven, mit etwa 300 000 Einwohnern, müsste wohl evakuiert werden.

Die Klimaforscher räumen ein, dass es in ihren Berechnungen Wissenslücken gibt. Die Klimaforschung ist eine recht junge Wissenschaft; und eine Minderheit von Experten hat gar grundsätzliche Zweifel. Aber dass sich Politik am wissenschaftlichen Konsens orientiert, ist durchaus vernünftig. Deshalb: Ja, die globale Erderwärmung ist ein gravierendes Problem, wer das bestreitet, ist in Beweisnot.

Die Frage ist bloß: Mit welcher Intensität und Radikalität wird das Problem angegangen? Gehört zum Weitblick nicht auch Augenmaß? Während man mit dem Zählen der gigantischen UN-Klimakonferenzen kaum nachkommt – Kyoto, Bali, Rio, Posen, Kopenhagen –, hungern weltweit etwa 850 Millionen Menschen, geschieht ein Völkermord in Ruanda, sterben im Kongokonflikt fast vier Millionen Menschen („eine der schlimmsten, andauernden humanitären Katastrophen weltweit“, urteilt die International Crisis Group). Allein in den letzten vier Jahrzehnten und allein in Afrika sind grob geschätzt 20 Millionen Menschen in Bürgerkriegen gestorben, 50 Millionen wurden vertrieben. Alles weitgehend unterhalb des Radarschirms jener weltweiten Besorgnisgemeinschaft, die im Falle des Klimawandels unaufhörlich rotiert. Verstellt die Flucht ins Übermorgen nicht manchmal die Sicht aufs Heute?

Nun soll das eine nicht gegen das andere ausgespielt werden. Konjunktur, Klima, Kongo, Simbabwe, Hunger, Energie, Atomwaffen, Terrorismus: Auf allen Feldern muss Politik sich bewähren. Aber sie muss dabei Maß halten, abwägen, Prioritäten setzen und der Versuchung zur Radikalität widerstehen. Nicht ausgeschlossen, dass in zehn Jahren ein durch Proliferation und Islamismus atomar hochgerüsteter Naher Osten zum neuen Überlebensproblem der Menschheit erklärt wird.

André Glucksmann hat es einmal so formuliert: „Der Bereich zwischen dem Tag-für-Tag, in dem der Berufspolitiker arbeitet, und dem Endgültigen, in dem der Visionär herumspekuliert, dieser Zwischenbereich findet in der Bundesrepublik keine Liebhaber.“ Dieser Befund beschränkt sich längst nicht mehr auf Deutschland.

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