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Meinung: Rückkehr der Erinnerung

Das Gedenken an den Ersten Weltkrieg eröffnet den Deutschen einen neuen Blick zurück

Heute vor 40 Jahren wurde das Supermodel Kate Moss geboren. Heute vor 795 Jahren starben über 30 000 Menschen durch eine Sturmflut an der Nordsee. Heute vor 1085 Jahren wurde Abd as Rahman III. erster Herrscher des Kalifats von Cordoba.

Jahrestage gibt es jeden Tag, entscheiden muss man sich nur, ob man in London mit Kate Moss anstößt oder in Friesland einen Gedenkstein enthüllt. Und in diesem Jahr der Jahrestage – 100 Jahre Erster Weltkrieg, 75 Jahre Zweiter Weltkrieg, 25 Jahre Mauerfall – kann man sogar nacheinander an allen Feierlichkeiten teilnehmen. Das Zusammenfallen der Daten ist Zufall, und doch wird das Jahr nicht enden, ohne dass dieser Zufall, der zum Sprung von der Somme zu Schabowski zwingt, etwas bewirkt hat.

Vor ein paar Jahren hat der Althistoriker Christian Meier in einem Essay für das Vergessen plädiert. Denn nicht mit Erinnern, schreibt Meier, hätten die Menschen seit den Griechen auf die Schrecken der Vergangenheit reagiert, sondern mit Vergessen. Der Jahrestag steht gegen das Vergessen, er drängt sich auch denen auf, die längst vergessen haben.

Wie schwierig dieses Jahr für die Deutschen werden kann, quasi zu einem nicht enden wollenden 9. November, an dem auch Gutes und Schlechtes der deutschen Geschichte zusammenfallen, zeigt sich schon heute. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, die Grüne Sylvia Löhrmann, hat ihr Anliegen für dieses Jahr formuliert: „Mir ist sehr wichtig, wie wir durch außerschulische Lernorte die Erinnerungskultur im Sinne politisch-historischer Bildung stärker ins Bewusstsein junger Menschen rücken können.“ Nicht die Vergangenheit will sie ins Bewusstsein rücken, sondern die „Erinnerungskultur“. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht vom „Auftakt einer Kampagne für politische Erinnerungskultur“. Abstrakter kann man sich der Vergangenheit nicht stellen. Auf der Webseite der britischen National Archives kann man dagegen an der Aufarbeitung der Dokumente von damals mitarbeiten.

Mit „Erinnerungskultur“ war bisher der Umgang mit dem „Dritten Reich“ und dem Holocaust gemeint. Daran waren nur die Deutschen beteiligt. Der Erste Weltkrieg war vergessen. Nun ist er wieder da, im übrigen Europa, mit hunderten von Büchern, Dokumenten und Erinnerungen. Selbst die Schuldfrage wird in diesem Erinnerungsjahr so offen diskutiert, dass jede deutsche Verdrängung unnötig geworden ist. Aus diesem Gedenken mag sich am Ende eine große europapolitische Erzählung für die Gegenwart ergeben, wie es sich die Deutschen wünschen – auch wenn darin die Flucht vor der eigenen Vergangenheit zum Vorschein kommt.

Oder dieses Jahr endet in einem postmodernen Geschichtsbrei, in dem alles zusammengehört und vor allem die außerschulischen Lernorte im Mittelpunkt stehen. Vielleicht aber öffnet dieses Jahr auch den Blick der Deutschen für das gesamte 20. Jahrhundert. Nicht als Schlussstrich, sondern als komplexerer Rückgriff auf die eigene Vergangenheit, die auch über Jahrestage von vor 1933 in die Gegenwart hineinragt. Es wäre ironisch, wenn Deutschland gerade durch das gemeinsame Gedenken mit Europa neu auf die eigene Vergangenheit blicken würde.

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