zum Hauptinhalt

POSITIONEN: Hört auf mit euren Schuldgefühlen!

Die Deutschen sollten sagen, was sie wirklich denken und fühlen

Ich bin vor einem Jahr zum ersten Mal nach Deutschland gekommen. Fünf Monate habe ich seitdem in Berlin und anderen Städten in Deutschland gelebt.

Damals, in der Schule, lernte ich Geschichte aus französischen Lehrbüchern, sie war von den Siegern geschrieben. Für mich endete der Zweite Weltkrieg mit einem Marshallplan für Europa, worauf die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgte, irgendwann endete der Kalte Krieg und alle lebten glücklich bis an ihr Lebensende. Aber trifft das mit dem glücklichen Ende auch auf die Deutschen zu?

Jemand, der nicht Deutscher ist und auch keine Beziehungen zu Deutschland hat, wird keine Ahnung haben, wie es mit dem Land nach dem Krieg weiterging. Ich auch nicht. Alles, was ich wusste, war, dass die Deutschen ihr zerstörtes Land schnell wieder aufgebaut haben und zur größten Wirtschaftsmacht in Europa wurden.

All die Romane, wissenschaftlichen Arbeiten und Filme seit 1945 sind in Deutsch, und wer die Sprache nicht kennt, dem bleibt das vollkommen fremd – von „Goodbye Lenin“ und „Das Leben der Anderen“ einmal abgesehen.

Die Deutschen reden nicht über das Leid nach dem Krieg, darüber, wie es war, in einem besetzten, geteilten Land zu leben, sie stellen nicht, oder sehr selten, die brutalen Bombenangriffe auf ihre Städte infrage, auch die Vertreibung ist kein Thema, und dass sie sich noch bis vor kurzem schämten, die deutsche Flagge zu zeigen, hört man auch nicht. Dabei sind Millionen Deutsche im Krieg umgekommen.

Warum haben sich die Deutschen nie beschwert und warum tun sie es bis heute nicht? Warum sind sie so still? Sie sind natürlich anständig und zurückhaltend, vor allem aber fühlen sie sich schrecklich schuldig und deshalb ist es ihnen lieber über ihr eigenes Leid zu schweigen – Leid, das nichts mit dem der Juden, Polen oder der anderen Nationen, die Opfer der Deutschen wurde, zu tun hat.

Für eine Nation, die stets an ihre eigene Überlegenheit geglaubt hat (und das unbewusst vielleicht noch immer tut), ist die Erfahrung, auf die Knie gebracht zu werden, gewiss nicht nichts.

Möglicherweise bin ich eine naive Nahostlerin, geboren und aufgewachsen in einer Region, wo jeden Tag Menschen sterben und andere um ihr Leben und ihre Werte kämpfen müssen. Ich komme aus einem Land, in dem fast jeder Blut an den Händen hat. Ich möchte nichts relativieren und halte das, was die Deutschen im Krieg getan haben, für schrecklich; ich glaube aber, dass das, was die Deutschen durchgemacht haben, auch schrecklich ist.

Es ist Zeit, dass die Deutschen aufhören, sich schuldig zu fühlen, dass sie sich weiterentwickeln und vielleicht die Dinge etwas weniger ernst nehmen. Nicht noch mehr bauen und aufbauen, das kann ohnehin keiner besser. Die ganze Aufbauerei, erst im Westen und dann im Osten, ist wahrscheinlich doch nur eine Flucht vor den eigenen Gefühlen. Seit 1933, und sicher schon davor, war harte, ernste Arbeit der einzige Wert, der in Deutschland etwas galt. Und vielleicht hat sich Deutschland seitdem nicht wirklich weiterentwickelt.

Die Deutschen sollten sich ihren Schuldgefühlen stellen und nicht weiter in Distanz zu sich selbst leben, sie sollten sagen, was sie wirklich über Einwanderung, Integration, die Euro-Krise, die ärmeren Länder in Europa denken und fühlen – frei von Angst davor, beurteilt zu werden oder als Rassisten verurteilt zu werden. Wenn sie sich diesen Themen ohne Schuldgefühle stellen, werden sie vielleicht auch befriedigende Lösungen finden.

Die Frage ist jedoch, ob die Deutschen ohne Schuldgefühle, die seit Luther in der deutschen Seele verankert und durch den Zweiten Weltkrieg vertieft wurden, ob sie ohne Pflichtbewusstsein und harte Arbeit, ob die Deutschen dann noch immer Deutsche sind, echte Deutsche.

Die Autorin arbeitet als Reporterin für die libanesische Zeitung „L’Orient Le Jour“. Sie ist durch einen Journalistenaustausch mehrere Monate in Berlin.

Patricia Khoder

Zur Startseite