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POSITIONEN: Der Beitritt – eine souveräne Entscheidung der Volkskammer!

Hartnäckig hält sich ein Mythos über die deutsche Einheit

Am 17. Dezember 1989 sprach ich in der überfüllten Marktkirche in Halle zu meinen halleschen Mitbürgern. In der Rede hieß es: „Sie nehmen nun Ihr Schicksal in die eigenen Hände. Sie wollen in freien Wahlen entscheiden über Ihre politische Ordnung, über Ihre gesellschaftliche Ordnung und über Ihre wirtschaftliche Ordnung. Sie werden auch entscheiden über das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander, und auch darüber, wie Sie die Zukunft unserer deutschen Nation sehen.

Unser Grundgesetz verpflichtet uns darauf, dem Frieden in der Welt zu dienen, ein vereinigtes Europa zu schaffen und die Einheit der Deutschen zu vollenden: Dieses Bekenntnis zur deutschen Einheit habe ich in jedem Jahr vor den Vereinten Nationen neu bekannt. Das ist ein Angebot an die Deutschen in der DDR, über das Sie zu entscheiden haben.

Es ist ein Angebot, das unsere europäische Friedensverantwortung erkennt und anerkennt – das unser Schicksal einbettet in das Schicksal Europas. Was immer Sie in der DDR entscheiden werden, über Ihre innere Ordnung, über das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander und über unsere deutsche Zukunft: Wir werden es respektieren.“

So ist es geschehen. Am 18. März 1990 gab es die ersten freien Wahlen in der DDR, die Volkskammer hat den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland beschlossen, mit Wirkung vom 3. Oktober 1990. Es war die Verwirklichung des Willens der ganz großen Mehrheit der Deutschen in der DDR. Es war eine alleinige Entscheidung der Volkskammer, Artikel 23 des Grundgesetzes sah keine Zustimmung der Bundesrepublik vor, es sollte eine souveräne Beitrittsentscheidung sein. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland gehörte das Gebiet der DDR auch zur Europäischen Gemeinschaft.

Von Zwangsvereinigung und Überstülpen der Vereinigung kann keine Rede sein. Die damalige DDR-Regierung hat auch nicht leichtfertig gehandelt. Sie übernahm das Land mit leeren Kassen und mit schwersten wirtschaftlichen Problemen. Nicht aus der Bundesregierung, sondern aus der Volkskammer kam das Drängen nach einem möglichst frühen Beitritt. Die Bundesregierung war daran interessiert, dass der Beitritt erst nach Abschluss der 2+4-Verhandlungen stattfand. Das geschah mit der Unterzeichnung des Vertrages am 12. September 1990 in Moskau.

Jedem Kundigen war klar, dass die Vereinigung den Deutschen in der DDR ein hohes Maß an Flexibilität beim Einstellen auf die neuen Lebensverhältnisse abverlangen würde. Aber der Wille zu dieser Umstellung war ja der Grund für die Massenflucht im Sommer und Herbst 1989 über Ungarn, Tschechoslowakei und Polen gewesen, und um neue Lebenschancen ging es auch bei den Forderungen „Wir sind das Volk“ und „Wir sind ein Volk“. Ich habe stets bewundert, mit welchem Mut und welcher Besonnenheit die Deutschen in der DDR Freiheit und Demokratie eingefordert haben. Deutsche als Teilnehmer der großen europäischen Freiheitsrevolution von 1989, das hat Vertrauen geschaffen und Respekt. Es hat uns in einem ganz ideellen Sinne reicher gemacht. Dieser geschichtlichen Bedeutung wird es nicht gerecht, wenn aus der souveränen Beitrittsentscheidung der Volkskammer im Nachhinein eine „Vereinnahmung“ gemacht wird.

Das alles nimmt dem Weg seitdem nichts von seinen Problemen und nichts von seinen Belastungen und nichts von der Schwere vieler Einzelschicksale. In meinen Reden 1990 habe ich gesagt: „Es wird ein langer und ein schwerer Weg sein, aber wir werden es schaffen.“ Das gilt auch heute. Wenn von den Lasten der Einheit gesprochen wird, dann geht es in Wahrheit um die Erblasten aus der Zeit davor. Dass es auch Fehler und Fehlentscheidungen gab, sollte niemand bestreiten. Den Erfolg aber kann das nicht mindern.

Mit dem Wort Stolz ist in der deutschen Geschichte immer wieder Missbrauch getrieben worden. Dennoch: Im Jahr der Freiheitsdemonstrationen 1989 war ich stolz auf die Menschen in meiner Heimat und ich bin es heute noch, und das schließt auch die Art ein, mit der sie danach die Probleme bewältigt haben.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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