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Meinung: Noch hat Europa die Ukraine nicht verloren

Die Trümpfe der EU: „Soft power“ und ihre stille Ostkompetenz

Europa, nimm dir ein Herz! Das Ringen um die Ukraine ist nicht verloren, wenn die EU sich auf ihre Stärken besinnt, voran die ungebrochene Attraktivität der europäischen Perspektive für die klare Mehrheit der Ukrainer und die Kompetenz, den die EU durch ihre Osterweiterung 2004 gewonnen hat. Litauer, Polen und Slowaken wissen im Zweifel besser als Deutsche, Franzosen oder Portugiesen, wie sich die Ukraine vor russischer Dominanz schützen kann und wie man mit einem erratischen „Homo Postsowjeticus“ wie dem Präsidenten Janukowitsch umgeht.

In Deutschland sind Kleinmut und Schuldzuweisungen verbreitet. Viele klagen über die Härte, mit der Russland um das alte Imperium kämpft. Andere behaupten, die EU habe gravierende Fehler begangen, zum Beispiel die Abhängigkeit von russischem Gas unterschätzt oder zu lange auf der Freilassung Julija Timoschenkos bestanden. Doch so naiv war die EU gar nicht. Sie fand überzeugende Lösungen für die Gasversorgung. Und nachdem Timoschenko kurz vor dem Gipfel in Vilnius gebeten hatte, die Assoziierung nicht an ihrem Schicksal scheitern zu lassen, war auch die EU flexibel.

Die Hauptgründe für die Lage sind in der Ukraine zu suchen. Warum fragt man in Berlin nicht öfter Leute wie Aleksander Kwasniewski um Rat? Kaum einer versteht das Land besser als Polens Expräsident. 2004 vermittelte er in der „Orangen Revolution“, jetzt war er regelmäßig für die EU in Kiew.

Europa hat die Assoziierung der Ukraine beim Gipfel in Vilnius nicht erreicht. Moskau ist aber auch nicht erfolgreicher. Weder hat Janukowitsch Nein zur EU gesagt noch die Integration in Putins Eurasische Union besiegelt. Er pokert, wer mehr bietet. Leider denkt er dabei nicht an sein Volk, sondern an sich: die Wiederwahl 2015, Schutz für das Vermögen, das seine Familie in seiner Amtszeit ergaunert hat, Straffreiheit.

Die nächsten zwei, drei Monate sind wohl entscheidend. Russland ist hochnervös. Einen offenen Wettbewerb mit der EU kann es nicht gewinnen. Deshalb greift es zu „hard power“: Drohung, Strafe, Erpressung. Seit dem Sommer lässt es ukrainische Waren gar nicht ins Land oder belegt sie mit Strafzöllen. Es droht, den Gashahn zuzudrehen, wenn Kiew nicht überhöhte Preise und die aufgelaufenen Schulden bezahlt. Putins Abgesandte stellen Janukowitsch vor die Wahl, sich entweder zu beugen und 2015 mit russischer Hilfe wiederwählen zu lassen – oder mit „Kompromat“ konfrontiert zu werden und nach Timoschenkos Muster im Gefängnis zu landen. Putins Dienste haben genug Belastungsmaterial gegen ihn und seine Familie.

Natürlich kann die EU in dieser Disziplin nicht mithalten. Ihre Stärke ist „soft power“. Die Massenproteste pro Europa in Kiew und anderswo sind der beste Beleg. Unter fairen Bedingungen wäre es nur eine Frage der Zeit, wann sich die Ukraine für Europa und gegen eine Zwangsgemeinschaft mit Russland entscheidet.

Nun sind Augenmaß, Realitätssinn und etwas Flexibilität im Umgang mit überhöhten Forderungen Kiews gefragt. Europa sollte erstens alles tun, damit Janukowitsch keine unumkehrbare Entscheidung für die Eurasische Union fällt; zweitens weiter um seine Unterschrift unter das Assoziierungsabkommen werben und das Angebot eventuell mit Finanzhilfen für den nahezu bankrotten Staat versüßen – natürlich geknüpft an Bedingungen; drittens den Ukrainern immer wieder sagen, dass die EU ihnen offen steht, inklusive der Beitrittsperspektive eines fernen Tages. Und viertens das Gespräch mit den Oligarchen suchen. Gewiss, auch sie haben ihre Vermögen unter dubiosen Umständen gemacht. Aber sie kontrollieren viele Medien und sind machtpolitisch entscheidend. Sie haben ein Interesse, die Zeit des Wildwestkapitalismus zu beenden. Ordnung und Rechtssicherheit sind für die meisten attraktiver als das russische Modell, in dem Putin die Steuerfahndung schickt, um politisch Unliebsame zu vernichten.

Ob Europa stark oder schwach wirkt, ob naiv oder kompetent, muss weder dem Zufall noch Russland überlassen bleiben. Es hängt davon ab, ob Europa auf seine Stärken vertraut und ebenso entschlossen wie Moskau ist, sich durchzusetzen. Zu viel Tempo muss niemand fürchten. Selbst wenn alles gut geht, würde die Ukraine 20 Jahre brauchen, um beitrittsfähig zu werden. Den gegnerischen Lagern in der Ukraine sind es Russland und die EU gleichermaßen schuldig, dass diese selbst über ihre Zukunft entscheiden. Sie sind in der Lage, miteinander zu reden und eine Eskalation zu vermeiden. Man muss sie nur lassen.

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