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Mon BERLIN: Eine energische Rumpfbeuge

Donnerstagmorgen. 10 Uhr in der Friedrichstraße.

Donnerstagmorgen. 10 Uhr in der Friedrichstraße. Nach drei Tagen Konsumabstinenz öffnen die Läden wieder ihre Türen, noch ist die Straße verlassen. Ein heller Lichtstrahl zerreißt den Himmel. Wir, eine kleine Schar von Weihnachtsüberlebenden, sitzen wie im Frühling auf einer Caféterrasse. Leicht verstört, mit leerem Kopf, das Gesicht zur dünnen Sonnenlametta gewendet, mit geschlossenen Augen, so schnappen wir nach frischer Luft wie Karpfen an der Wasseroberfläche. Wir sind unseren Wohnungen entflohen, den auf den Sofas aufgereihten Besuchern, den Bergen von Geschenkpapier, dem Geschirr in der Spüle, dem Truthahngerippe, den geleerten Plätzchendosen und dem Weihnachtsbaum, der mitten im verwüsteten Wohnzimmer thront wie ein Schlachtendenkmal. Wir genießen diesen Augenblick der Ruhe und des Alleinseins an einem so gar nicht privaten Ort, mitten auf dem Platz. Nach drei Tagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist dieser erste Ausflug in das wahre Leben etwas Besonderes. Das Grundrauschen des Verkehrs, das Türenklappen, die Gespräche auf dem Bürgersteig, Briefträger, Müllmänner. Wie schön war es heute Morgen, vom Rollen der Mülltonnen im Hof aufzuwachen. Die Normalität setzt sich wieder durch. Als würde Berlin nach drei Tagen eines komatösen Schlafs allmählich erwachen und die Glieder rekeln. Auf der Straße sind ein paar Enttäuschte unterwegs, Geschenke umtauschen. Ein wunderbar altmodisches italienisches Touristenpaar – er in grünem Loden, sie im Nerz mit Hermès-Foulard – macht eine morgendliche Passeggiata in Richtung Unter den Linden. In den Galeries Lafayette stapeln die Verkäuferinnen ihre Munition auf: Foie gras, Pasteten, Pralinen. Denn in einigen Tagen geht alles von vorne los. Die Champagnerkorken werden knallen, und Berlin wird einer Stadt im Bombenhagel ähneln.

Diese Zeit entre les fêtes ist ein einzigartiger Moment. Noch benommen von Weihnachten, noch nicht in fieberhafter Silvesterlaune. Eine Zeit des Innehaltens im labilen Gleichgewicht zwischen zwei Jahren. Die Zeit, vor den guten Vorsätzen Bilanz zu ziehen. Man ist ein wenig melancholisch, in sich gekehrt, auch etwas bang. Wie die Sekunden des Zögerns auf dem Sprungbrett, bevor man sich in das Nichts des neuen Jahres stürzt. Kurz die Arme dehnen, in die Knie gehen, ein letzter Blick hinter sich auf die Treppe, die zum festen Boden des eben abgelaufenen Jahres führt. Keine Chance, umzukehren und sich auf dem Rasen auszustrecken. Man muss springen. 2013 Ein riesiger unentdeckter Kontinent, noch ganz verschwommen, ohne Konturen. Was wird das Leben uns bringen? Und plötzlich ist das Zögern vorbei. Eine energische Rumpfbeuge, man kippt nach vorn, man verliert das Gleichgewicht und stürzt sich ins Neue. Man rutscht vom alten ins neue Jahr. Komme, was da wolle! Bonne année!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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