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Mon BERLIN: Die Erotik des Gepäcks

Sonntag früh, sechs Uhr morgens: Alle Schläfer in meiner Straße schrecken hoch. Ein verstörender Krach zerhackt die wohltuende Stille und reißt uns brutal aus dem Schlaf.

Sonntag früh, sechs Uhr morgens: Alle Schläfer in meiner Straße schrecken hoch. Ein verstörender Krach zerhackt die wohltuende Stille und reißt uns brutal aus dem Schlaf. Ein befremdliches regelmäßiges Schleudern bricht sich an den hohen Fassaden, verstärkt sich und hallt durch die ganze Straße. Ohrenbetäubend. Ich stürze zum Fenster, überzeugt, dass eine Panzerbrigade unsere Stadt im Morgengrauen erstürmen will oder dass eine Horde Motorradrocker in schwarzer Lederkluft uns bedroht und alles kurz und klein schlagen wird. Ein Albtraum! Zitternd beuge ich mich aus dem Fenster und entdecke unten einen einsamen, völlig harmlosen Mann. Mit kleinen Schritten geht er den noch im Dunkeln liegenden Bürgersteig entlang und zieht einen winzigen Rollkoffer hinter sich her. Er bewegt sich auf die Bushaltestelle zu. Der Koffer dröhnt über das Pflaster, stolpert über den Bordstein, nimmt seinen Weg und sein Getöse wieder auf.

Der Rollkoffer ist eine Berliner Plage. Kann doch nicht wahr sein, dass janz Berlin es mit dem Rücken hat! Eine Metropole ruft Skoliosen, Bandscheibenvorfälle, strapazierte Muskeln und Bänder, ausgedehnte Sehnen, Hexenschüsse und Ischias hervor? Ja, ich weiß, Sie werden Ihr Kreuz massieren, ein Schmerzmittel schlucken, ein Wärmepflaster auf das rechte Schulterblatt kleben, zum Orthopäden laufen, sich rückenschonende neue Sitzmöbel gönnen und über meine Intoleranz, ja meinen Sadismus herziehen! Was hat die denn jetzt vor, am Samstagmorgen? Will sie uns zwingen, uns wie Sträflinge zu krümmen, um den Koffer vorsichtig auf dem Rücken zu balancieren? Will sie uns in afrikanische Mamas verwandeln, die mit hochgerecktem Kopf und langem Hals den Koffer auf dem Schädeldach tragen? Wie stellt sie sich das vor? Wie sollen wir in Zukunft unseren Koffer transportieren?

Und doch bekenne ich es laut und deutlich! Ich bin allergisch gegen Rollkoffer!

Mich frappiert immer wieder das umgekehrt proportionale Verhältnis zwischen der Muskelmasse des Reisenden und den geringen Ausmaßen des Koffers. Ist es Ihnen schon mal aufgefallen? Je mehr der Mann an einen Bodybuilder erinnert, desto eher hat sein Gepäck die Größe einer Pralinenschachtel. Die zarten alten Damen schleppen mit größter Anstrengung einen gigantischen Lederkoffer aus den 60ern.

Ja, sehen Sie sich einmal die jungen Männer mit dem Gladiatorenkreuz an, wie sie durch den Hauptbahnhof stolpern, im Schlepptau ein Miniköfferchen. Mich erinnern sie an große Steppkes, die eine Holzente auf Rädern hinter sich herziehen. Warum werfen sich diese Kerle nicht lässig eine große Reisetasche über die Schulter und gehen mit nonchalanten Schritten zum Bahnsteig, statt mit Mäuseschritten durch die Bahnhofshalle zu trippeln?

Und dann diese sportlichen Männer, die mit aufgeblasenen Muskeln aus dem Fitnessstudio kommen, das Testosteron quillt ihnen aus allen Poren. Sie haben gerade Gewichte gestemmt, sie sind Stunden auf einem Laufband gerannt, und jetzt können sie ihre Sporttasche nicht tragen.

Nichts ist weniger erotisch als ein Rollkoffer!

Wie also kann man diese Geißel aus unseren Straßen verbannen und den Schlaf wiederfinden? Janz Berlin zum Chiropraktiker schicken? Die guten alten Gepäckträger wieder einführen, die sich an unserer Seite abplagen, oder Maultiere, die am Gurt neben uns hertrotten? Stellen Sie sich das Spektakel am Hauptbahnhof vor! Wenn ich mich im Morgengrauen aus dem Fenster lehne, denke ich oft an meine Großmutter, die mir vor dem Spiegel die Haare entwirrte, als ich ein kleines Mädchen war: „Wer schön sein will, muss leiden!“ Wer sexy sein will, auch, wage ich heute Morgen hinzuzufügen.

Also, meine Herren, hopp, die Matrosentasche lässig über die Schulter schwingen und leise durch das sonntagsfrühe Berlin schleichen. Die Schläfer werden es Ihnen danken.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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