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Lesermeinung: Eine Frage der Haltung

Zur Berliner Wahl„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Diese von Voltaire beschworene Formel muss bei allem Argwohn, ja selbst im Gefühl der Abscheu vor den aktuellen Entwicklungen in der Zivilgesellschaft auch für die AfD gelten.

Zur Berliner Wahl

„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“ Diese von Voltaire beschworene Formel muss bei allem Argwohn, ja selbst im Gefühl der Abscheu vor den aktuellen Entwicklungen in der Zivilgesellschaft auch für die AfD gelten. Was uns jedoch da bereits vor dem Wahlabend in Mecklenburg-Vorpommern oder in Berlin alles aufgetischt wurde, war gleichwohl kaum noch zu ertragen. Überflügelt wird dies nur noch von der gekonnten Übung, sich als Wolf im Schafspelz zu präsentieren. Während sich die Kanzlerin im Zeichen einer gut gemeinten, gleichwohl lausig geführten Flüchtlingspolitik wie eine Gefangene im eigenen Elfenbeinturm verkriecht, marschieren Stressfaktoren wie Alexander Gauland und Frauke Petry von der AfD mit breiter Brust auf dem Boulevard der Einthemenlandschaft vorneweg. Testosteron gepaart mit simplen Antworten auf komplizierte Fragen der Gegenwart lassen AfD-Anhänger vor laufender Kamera in ekstatischen Jubel ausbrechen; so geschehen am 4.9.2016 gegen 18:03 nach Verlautbarung der ersten Hochrechnung im Norden der Republik.

Doch zuvor betrat das Führungspersonal dieser neuen Alternative für Deutschland ein polemisches Feld, auf dem vor allem die Kraft sprunghafter Entgleisungen vorherrschte. Öffnet man den rhetorischen Giftschrank, stößt man auf eine Flüchtlingskrise als Geschenk für die AfD. Damit nicht genug: Dem Moses-Mendelssohn Preisträger Boateng versagt man den Handschlag als unerwünschtem Nachbarn. Während Frau von Storch muskulös über den Schießbefehl der Neuzeit als angemessene Schutzmaßnahme gegen entkräftete Flüchtlinge schwadroniert, schwärmt Herr Höcke in Sachsen-Anhalt von 1000 Jahren Deutschland, um der NPD den Rang abzulaufen. In dieser Tradition tritt Jörg Meuthen als ein weiterer Patriarch dieser Zunft vor die Kamera, und flirtet glattweg mit der NPD als Lieferant vernünftiger Vorschläge in Gesellschaft und Politik. Frauke Petry übertrifft sie jedoch alle. Seit Neuestem schwelgt sie in Begriffswelten unter der Chiffre „Bürgerkrieg“ und empfiehlt eine positive Wertschätzung des vergifteten Adjektivs „völkisch“. Dies erinnert an ein „Schutzgeldgehabe“ all derer, die nichts Gutes im Schilde führen. Sie warnen nämlich vor etwas, was anzuzetteln sie selbst im Stande sind. Und doch zeigt vor allem auch das jüngste Wahlergebnis in Berlin, dass die AfD die einzige Partei ist, die trotz, möglicherweise sogar wegen dieser gezielten Provokationen beispiellos an Stimmen zulegt.

Auch wenn wir verdammen, was jene vor Journalisten und vor Zornesröte gesagt haben; wir dürfen ihnen das Wort gleichwohl nicht verbieten. So schwer es auch fällt. Aus einer scheinbaren Schwäche der Demokratie erwächst am Ende eine unüberwindliche Stärke. Ließen wir den verbalen Lärm nicht zu, würde uns die Erkenntnis der Verdammungswürdigkeit ja entgehen. In diesem Hohlraum dumpf agierender Protestmassen verbergen sich letztlich auch ernst zu nehmende Sorgen vieler Menschen. Deren ungehörtes Anliegen wird oftmals tatkräftig von Parteien wie der AfD missbraucht. Hier schließt sich der Kreis.

So beklagenswert das Umfeld neuer Sponsoren der Giftindustrie in Wort und Bild sein mag. Sie haben als listige Zuhörer von sorgenvollen Menschen mit frechem Kalkül den etablierten Parteien ein Schnippchen geschlagen. Warum? Weil das politische Establishment durch eine vermeidbare Distanzierung ihrer Eliten zur Basis diese Menschen in die Fänge von plumpen Rattenfängern trieb. Auf diesem Terrain fußt letztlich auch der beklagenswerte Brexit. Die Vorherrschaft schändlicher Begriffe wie Reproduktionsüberschuss in Afrika oder Flüchtlingskrise als Glücksfall der AfD kann nur dann gebrochen werden, wenn die altehrwürdige Politriege den Mumm hat, auch unpopuläre, ja durchaus politisch unkorrekte Fragen zuzulassen. Vielleicht liegt es nur an der Haltung in Politik und Gesellschaft, die so viele Sorgenträger in die Flucht geschlagen hat oder noch schlägt. Haben wir es etwa bei dieser Tonlage mit einer Flüchtlingsnot 2.0 zu tun? Das muss unweigerlich zu einer Eskalationshäufung führen, wenn diese Flüchtlinge aus dem eigenen Lager als Opfer von Politikern mit schwachen Haltungsnoten in die Fänge von Rechtpopulisten geraten.

Man ist geneigt, im Sinne von Friedrich Nietzsche eine bekannte Losung aus den Fröhlichen Wissenschaften neu zu kodieren und statt den Philosophen all den Wortführern in den Parlamenten zuzurufen: „Auf die Schiffe, ihr Politiker, freigebig an Glück und Wohlwollen, um Böses zum Guten zu wenden, mit Haltung alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringen“.

Mit der Hintergrundstrahlung einer neuen Haltung im Stammland der etablierten Politik ließe sich dann auch der Kälteeinbruch in den Debatten um Flüchtlinge, Verlustängste und den Folgen einer postkolonialen Weltordnung überwinden. Hierdurch könnte die Dominanz einer aufkommenden Trash-Kultur im demokratischen Prozess der Gegenwart von Existenzformen der Vernunft wieder abgelöst werden. Es ist nur eine Frage der Haltung.

Thorsten Purps, Potsdam

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