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KONTRA Punkt: Vom Wahn zum Wort – und zurück

Jakob Augstein und seine Verteidiger: Was erklärt die Reflexe?

In einer Debatte, die zwischen Überhöhung und Ignoranz pendelt, müssen auch Selbstverständlichkeiten betont werden. Darum zunächst: Jakob Augstein ist nicht Julius Streicher. Selbst wenn er es wäre, so gelten doch heute andere Wirkungsmächtigkeiten als zu Zeiten des „Stürmers“. Amerika, Russland, England und Frankreich haben zum Glück genug Atombomben, um ein nächstes deutsches Auschwitz zu verhindern. Und vielleicht ist sogar die israelische Armee stark genug, ohne freilich die Macht der Juden überschätzen zu wollen, um es mit der Amish-Moral der Bundeswehr aufzunehmen. Insofern müssen sich die Juden heute vor Augstein weit weniger fürchten – wenn überhaupt – als in den dreißiger Jahren vor Streicher.

Aber wer die Frage, was im 21. Jahrhundert antisemitisch ist, vorrangig in den Dimensionen von Auschwitz diskutiert, will die Debatte beenden, bevor sie begonnen hat. Soll man über aktuelle Formen der Diskriminierung von Frauen nicht reden dürfen, weil keine Hexen mehr verbrannt werden? Darf man keine Homophobie mehr beklagen, weil wir die Homo-Ehe und einen schwulen Außenminister haben? Gemessen an der Hexenverbrennung gibt es keine Frauendiskriminierung mehr. Gemessen an Streicher ist niemand ein Antisemit.

Ressentiments wandeln sich, in der Regel von plump zu subtil. Wer früher „Scheiß-Ausländer“ sagte, schwadroniert heute über „kulturelle Überfremdung“. Und das Motto des „Stürmers“, das die Zeitschrift seit 1927 auf ihrer Titelseite hatte – „Die Juden sind unser Unglück“ –, heißt in moderner Übersetzung: „Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“ (Günter Grass). Damals wie heute werden dem Gegner zerstörerische Allmachtsfantasien unterstellt sowie die reale Fähigkeit, diese auch auszuleben. Aus „den Juden“ ist die Chiffre „Israel“ geworden, also das Land selbst, nicht etwa eine bestimmte Regierung oder Politik.

Augstein hat das Grass-Gedicht „Was gesagt werden muss“ verteidigt. Und er wird jetzt in Deutschland fast unisono vom Verdacht exkulpiert, sich selbst antisemitischer Stereotype zu bedienen. Es wirkt gar, als solle Augstein gegen Kritik in ebenjenem Maße immunisiert werden, in dem er und seine Mitstreiter annehmen, dass ihre Gegner Israel vor Kritik immunisieren wollen. Die Antisemitismusdebatte blüht und gedeiht durch Projektionen.

Am 6. April 2012 schrieb Augstein: „Mit der ganzen Rückendeckung aus den USA, wo ein Präsident sich vor den Wahlen immer noch die Unterstützung der jüdischen Lobbygruppen sichern muss, und aus Deutschland, wo Geschichtsbewältigung inzwischen eine militärische Komponente hat, führt die Regierung Netanjahu die ganze Welt am Gängelband eines anschwellenden Kriegsgesangs.“ Das heißt übersetzt: Israel will in einen Krieg ziehen und bedient sich dazu der jüdischen Lobby in Amerika und instrumentalisiert das deutsche schlechte Gewissen wegen des Holocausts.

Ist es wirklich so schwer, in dieser Formulierung den Topos einer finsteren Verschwörung zu erkennen? In dieser Wahn-Wahrnehmung beherrscht das kleine Israel mittels perfider Methoden nicht nur Amerika und Deutschland, sondern ist sogar in der Lage, „die ganze Welt am Gängelband“ zu führen. Die Maßlosigkeit der Unterstellung offenbart die Tiefe des Ressentiments.

Weil das offenkundig ist, überrascht der vehemente Verteidigungsreflex. Einer wie Augstein sei über jeden Verdacht erhaben, tönt es von allen Seiten. Was erklärt dieses einhellige Urteil? In der Verschwörungslogik Augsteins, dem der „Freitag“ gehört und ein Teil des „Spiegels“, könnte es an seinem eigenen Einfluss auf und seiner Macht über die deutsche Medienlandschaft liegen, dass er diese so einfach am Gängelband führen kann. Hoffen wir, dass seine Logik generell nicht stimmt.

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