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Koalitionsverhandlungen: Aus der Zeit gefallen

Dass der Mensch aus Erfahrungen lernt, ist eine Eigenschaft, die das Überleben der Art gesichert hat. Angela Merkel und Sigmar Gabriel haben versucht, diese Erkenntnis auf die Politik zu übertragen.

Dass der Mensch aus Erfahrungen lernt, ist eine Eigenschaft, die das Überleben der Art gesichert hat. Angela Merkel und Sigmar Gabriel haben versucht, diese Erkenntnis auf die Politik zu übertragen. Das geht möglicherweise grandios daneben. Weil bei der Bildung der schwarz-gelben Koalition vor vier Jahren geschlampt wurde und Union und FDP ihre Differenzen hinter Prüfaufträgen verbargen, war die zweite Regierung Merkel nicht, wie die Kanzlerin meinte, die beste seit der Wiedervereinigung, sondern die peinlichste. Als sich nach dem 22. September 2013 eine große Koalition als Lösung abzeichnete, beschlossen CDU, CSU und SPD deshalb, mit größter Sorgfalt ans Werk zu gehen. Ergebnis: 2009 gab es eine Liste offener Fragen ohne Antworten. 2013 ist das genauso, aber man hat wenigstens darüber gesprochen.

Nichts sollte diesmal bei der Formulierung des Koalitionsvertrages im Ungefähren bleiben. Die Parteien bildeten gewaltige Verhandlungskommissionen, denen Unterkonferenzen Ergebnisse zuarbeiten müssen, und am Ende sollen dann die drei Parteivorsitzenden allerletzte Differenzen abklären. Das geht nun seit vielen Wochen so. Was die Öffentlichkeit noch im Oktober als Witz verstand – man hoffe, bis Weihnachten fertig zu sein –, gilt inzwischen als anspruchsvolles Ziel. Tatsächlich ist Schwarz-Rot auf entscheidenden Sachgebieten heute zerstrittener als am Beginn der Koalitiongespräche. Die SPD-Führung zeigt sich als wandelnde Angst vor Kompromissen, sie überlässt am Ende das Ja oder Nein einem Mitgliederentscheid. Und die CDU, die das eben noch ironisierte, entdeckt inzwischen den Charme der Diskussion mit den Mitgliedern und möchte das in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg auch so machen.

Es kann gut sein, dass Schwarz-Rot in einer Woche feststellt, dass es nicht reicht. Dann gibt es einen zweiten schwarz-grünen Versuch oder Neuwahlen. Der Rest der Welt wundert sich einstweilen darüber, dass eine der wichtigsten Nationen sich im Vertrauen auf die stabilisierende Wirkung des Grundgesetzes von einem geschäftsführenden Kabinett verwalten lässt. Denn Regieren kann man das ja wohl nicht nennen.

Gerd Appenzeller

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