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Meinung: Fragile Verfassung

Vor drei Jahren begann die Arabellion – zum Feiern gibt es am Jahrestag kaum Anlass

Nur eine Handvoll Unentwegter feierte in dieser Woche noch auf den Straßen Tunesiens. In Ägypten droht dem ersten frei gewählten Präsidenten Mohammed Mursi ein stalinistischer Schauprozess. In Libyen gehören Terrormorde zum Alltag. Drei Jahre nach der Selbstverbrennung des jungen tunesischen Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi macht die arabische Welt fast nur noch Negativschlagzeilen. Die Euphorie ist verflogen.

Dem Wunsch nach Freiheit in Syrien stehen mittlerweile mehr als 100 000 Tote, Millionen Obdachlose und eine kompletten Selbstzerstörung der Heimat entgegen. Der Jemen an der Südspitze der Arabischen Halbinsel droht ein zweites Somalia zu werden. Entlang des Mittelmeeres herrschen praktisch überall Wirtschaftsmisere und Flüchtlingselend, blutige Machtkämpfe auf den Straßen und wachsende Al-Qaida-Gefahr. Unversöhnlich stehen sich die islamistischen und säkularen Lager gegenüber. Kein Wunder, dass sich die Menschen der postrevolutionären arabischen Nationen inzwischen fragen, ob sich das ganze Aufbegehren gegen ihre verhassten Langzeitpotentaten überhaupt gelohnt hat.

Denn die Aussichten sind nicht gerade vielversprechend. In Ägypten führt die vom Militär an die Macht geputschte Führung mit brachialer Härte vor, dass revolutionäre Errungenschaften wie Demonstrations- und Meinungsfreiheit sowie Schutz vor Folter und Justizwillkür keineswegs unumkehrbar sind. Am Nil wandern Demokratieaktivisten dieser Tage reihenweise hinter Gitter, der nächste Präsident wird wahrscheinlich wie Nasser, Sadat und Mubarak wieder aus dem Kreis der Top-Generäle stammen. Libyen könnte als Staat bald nur noch auf dem Papier existieren. Die Entwicklung in Tunesien ist geprägt von wirtschaftlichen und politischen Fieberschüben, ausgelöst durch zwei kaltblütige Morde an Oppositionspolitikern. Und ob das Land in diesem Zustand die verbleibenden Hürden auf dem Weg zu seiner ersten post- autoritären Verfassung überwinden kann, steht in den Sternen.

Egal ob Ägypten, Libyen oder Tunesien – jede neue Runde im Kampf um die Macht führt in den drei Vorreiterstaaten des Arabischen Frühlings zu weiterer Zerrüttung. Denn die politischen Eliten sind den postdiktatorischen Herausforderungen nicht gewachsen. Die Zivilgesellschaften wiederum verfügen nicht über genügend Potenzial, Bürgersinn zu generieren, plurale Praxis einzuüben oder die autoritäre politische Kultur aufzuweichen. Gleichzeitig wachsen in der gesamten Region Armut und Arbeitslosigkeit. Die Auslandsinvestitionen stocken, der Tourismus liegt am Boden und Unternehmer suchen wegen der grassierenden Anarchie das Weite.

Trotzdem wäre es verfrüht, den vor drei Jahren mit großem Mut durchgekämpften Freiheitsidealen bereits jetzt ihr Scheitern zu bescheinigen. Nirgendwo auf der Welt wurden derart komplexe Transformationsprozesse zu mehr politischer Pluralität innerhalb weniger Jahren gemeistert. Viele postkommunistische Staaten Osteuropas waren erst ein Jahrzehnt nach dem Fall des eisernen Vorhangs aus dem Gröbsten raus. Andere stehen selbst 25 Jahre später noch nicht auf soliden Beinen. Und so muss auch das historische Urteil über den Arabischen Frühling weiterhin offenbleiben – trotz aller Rückschläge und Zweifel.

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