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Menschen mit Behinderungen sind überdurchschnittlich oft von Gewalt betroffen.

© Symbolfoto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Nach dem Verbrechen am Oberlinhaus: Gewalt in Behinderteneinrichtungen: Ein strukturelles Problem?

Menschen mit Behinderungen erleben überdurchschnittlich oft Gewalt - auch in Einrichtungen wie Heimen oder Werkstätten. Bald sind Träger gesetzlich zur Prävention verpflichtet.

Potsdam - Die Hintergründe des Gewaltverbrechens mit vier Toten am Oberlinhaus sind weiter unklar – Inklusionsaktivisten wie Raúl Krauthausen fordern angesichts der Tat mehr Aufmerksamkeit für das Thema Gewalt in Behinderteneinrichtungen. „Immer wieder gibt es in Pflege- und Wohnheimen für Menschen mit Behinderung Fälle von Gewalt, Missbrauch, Diskriminierung und Beleidigung“, schreibt Krauthausen auf der Plattform „Die neue Norm“. Dabei handele es sich nicht um Einzelfälle, sondern um eine diskriminierende Struktur.

Frauen sind laut einer Studie besonders betroffen

Tatsächlich sind Menschen mit Behinderungen deutlich häufiger von Gewalt betroffen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Eine im Auftrag des Bundesfamilienministeriums an der Universität Bielefeld erarbeitete Studie zur Situation von Frauen mit Behinderungen konnte das 2011/12 erstmals mit repräsentativen Zahlen belegen. Frauen mit Behinderungen haben demnach ein fast doppelt so hohes Risiko, körperliche Gewalt zu erleben wie der weibliche Bevölkerungsdurchschnitt. Von sexueller Gewalt sind Frauen mit Behinderungen sogar zwei- bis dreimal häufiger betroffen. Zwischen 14 und 31 Prozent der befragten Frauen – die verschiedenen Werte beziehen sich auf zuhause wohnende und in Einrichtungen lebende Befragte – haben als Erwachsene psychische Gewalt in Einrichtungen oder Diensten erfahren. Bis zu 20 Prozent der in Einrichtungen lebenden Frauen gaben an, körperliche oder sexuelle Gewalt an einer Einrichtung erlebt zu haben – besonders häufig genannt wurden Werkstätten und Personal oder Mitbewohner im Wohnheim.

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2013 legte die Uni Bielefeld eine ähnliche Studie zur Situation von Männern mit Behinderungen vor. Auch sie sind demnach überdurchschnittlich oft von Gewalt betroffen. Anders als bei den Frauen spielen die Einrichtungen als Tatort keine ganz so deutliche Rolle: Immerhin zwei Prozent der Befragten gaben aber an, an einer Einrichtung körperliche Gewalt erfahren zu haben.

Betroffene stark machen: Lebenshilfe startete Beschwerdestelle nach Vorfällen

Bei der Bundesvereinigung Lebenshilfe, die sich der Selbsthilfe für Menschen mit geistigen Behinderungen widmet und deren Ortsverbände auch Einrichtungen wie Werkstätten oder Wohnheime tragen, hat man 2017 eine bundesweite unabhängige Beschwerdestelle für Lebenshilfe-Einrichtungen eingerichtet. Anlass waren die im selben Jahr vom Journalistenteam um Günter Wallraff aufgedeckten schwerwiegenden Missstände auch in Lebenshilfe-Einrichtungen.

Zwei bis drei Betroffene pro Woche meldeten sich seitdem über diese Beschwerdestelle, sagt Jeanne Nicklas-Faust, die Bundesgeschäftsführerin der Lebenshilfe, den PNN – die Lebenshilfe betreut rund 130 000 Menschen mit geistigen Behinderungen bundesweit. Meist gehe es um Konflikte zwischen Mitarbeitenden und Bewohnern oder Beschäftigten, die gelöst werden konnten. Aber man sei über die Beschwerdestelle auch „auf schwerwiegende Dinge aufmerksam geworden“. Das sei auch Ziel, betont Nicklas-Faust.

Wichtig, dass auch Kollegen Warnzeichen wahrnehmen und melden

Es gehe bei diesem und anderen Angeboten wie zum Beispiel Schulungen darum, die Betroffenen stark zu machen: „Damit sie das Selbstbewusstsein haben, sich zu melden, wenn jemand Grenzen überschritten hat.“ Das könne auch Kollegen betreffen. Menschen, die in einer Einrichtung für Behinderte arbeiten, seien anfangs oft idealistisch, „wollen Gutes tun“, sagt Nicklas-Faust. „Manchmal biegen die irgendwann ab.“ Dann brauche es Kollegen oder Vorgesetzte, „die merken, da muss man etwas tun“.

Klaus Heidrich, der stellvertretende Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland e.V., spricht sich für mehr Kontrollen an Einrichtungen aus, um Gewalt vorzubeugen. Wichtig seien auch Schulungen für das Personal, sagte Heidrich den PNN am Montag. Mitarbeitende müssten sensibilisiert werden, damit sie bei zweifelhaftem Vorgehen von Kollegen die Verantwortlichen in Kenntnis setzen und diese reagieren können. „Das ist das Entscheidende“, sagt Heidrich. Im Fall am Oberlinhaus könne er kaum glauben, dass die Tat aus dem Nichts heraus geschah: „Es muss da im Vorfeld Signale gegeben haben.“

Der Bund verpflichtet Träger erstmals zur Gewaltprävention - eine Vorgabe der UN-Behindertenrechtskonvention

Oberlinhaus-Sprecherin Andrea Benke verwies am Montag gegenüber der Deutschen Presseagentur auf psychologische und teambildende Begleitung für Mitarbeitende. Jährlich gebe es Angebote für Supervisionen, Coachings, Fallberatungen und Teamtage, so die Sprecherin. „Somit können wir bei Bedarf entsprechend reagieren und weitere Unterstützungsmaßnahmen einleiten.“

Träger von Behinderteneinrichtungen sind mit dem im April vom Bundestag verabschiedeten Teilhabestärkungsgesetz erstmals gesetzlich zur Gewaltprävention verpflichtet – bislang war das nur empfohlen. Damit setzt Deutschland eine Vorgabe aus der 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention um. Die Lebenshilfe geht einen Schritt weiter und fordert eine staatlich finanzierte unabhängige Ombudsstelle, an die sich Betroffene von Gewalt an Behinderteneinrichtungen wenden können. Die Präventionsmaßnahmen der Träger allein reichten nicht, sagt Lebenshilfe-Bundeschefin Nicklas-Faust den PNN: „Weil es eine Form von struktureller Gewalt in diesen Konstellationen gibt.“

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