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Stadtentwicklung nach der DDR: Wie Potsdamer ihre Heimat verlieren

Vor der Heimat kann man nicht flüchten. Was aber, wenn die Heimatstadt einen verlässt? In einem Gastbeitrag nimmt Filmproduzent Peter Effenberg Abschied von Potsdam.

Als ich ein Kind war, hatte ich eines von vier Durchgangszimmern in der Bertinistraße 1. Gegenüber meiner Wohnung lag die Alte Meierei hinter der Mauer. Die Hunde der Grenztruppen bellten des Nachts. Vom Fenster meines Zimmers konnte ich die Segelschiffe des Westens am Schloss Glienicke sehen. Auf der anderen Seite des Hauses lag eine alte Villa, meine Nachbarn behaupteten, sie hätte einst Mendelssohn-Bartholdy gehört und mein Zuhause sei das Gesindehaus gewesen. Dazwischen eine Wiese, die ich als Fußballplatz mit meinen Kumpels nutzte. Zwei zerfallenen Handballtoren flickten wir liebevoll Woche um Woche das Netz. Wenn Schulkamerad Chappi mit straffem Schuss die Latte knallte, fiel das Tor zusammen und musste mit neuen Stöckern gestützt werden. Die alten Stallungen – das, erzählten die Nachbarn, seien sie einst gewesen – direkt an unserem Haus beherbergten einen Konsum. Einmal oben die Treppe runter gucken und die Lage peilen: War der Konsum leer, ging es runter zu Frau Zenke, der Verkäuferin.

Nur wenige Meter die Straße hoch fuhr der Bus der Linie F in die Stadt. Wenn Rudi das Lenkrad steuerte, durfte ich vorne stehen, manchmal die Türen öffnen und davon träumen, später einmal seinem Berufsstand beizutreten. Hinter der Bushaltestelle, am Fuße des Pfingstbergs, erstreckte sich unterhalb des Altenheims mein Indianerwäldchen. Kumpel Huschi lehrte mich das Schnitzen, das Anschleichen und wie man eine Bude baut. Noch im Wald wieder eine Mauer, diesmal beschützte sie die Kaserne der Roten Armee. Wenn ab und zu ein Sowjetsoldat dem Lagerkoller entfloh, standen seine Kollegen bewaffnet in der Gegend herum und warteten, bis er sich stellte oder eingefangen war.

„Über Ostdeutsche, die jetzt eine neue Rolle als Migranten bekommen haben“

Rudis Bus der Linie F fuhr noch durch den Neuen Garten, erste Station Cecilienhof. Dort fischten wir heimlich ab und an die Westgroschen aus dem Brunnen, die wir unter den bösen Blicken der Intershop-Dame um die Ecke in einen Duplo versetzten. Der Laden roch unfassbar anders.

Mit dem Fahrrad ging es durch den Neuen Garten in die Schule in der Straße der Jugend oder zu meinem Vater in die Fachhochschule für Gesundheits- und Sozialwesen. Auf dem Weg badeten wir nackt im Heiligen See. Die Villa der britischen Militärmission lag majestätisch in der Seestraße. Gegenüber der Fachhochschule spielten die Kollegen meines Vaters mit mir einmal wöchentlich Fußball am Tiefen See. Gleich nebenan war die Bezirksleitung der FDJ (Freie Deutsche Jugend) untergebracht, die später zum „Haus der Jugend“ wurde und Heimat meiner jugendlichen Entdeckung der Welt. Eine alte Tankstelle diente als Annahmestelle für die Sekundär-Rohstofferfassung, kurz Sero, über die ich mir mit gesammelten Zeitungen ein zusätzliches Taschengeld verdiente.

Heute sitze ich in London auf dem Flughafen die zwei Stunden Verspätung des Abflugs meiner Maschine nach Berlin ab. Mir kommt der „Spiegel“-Artikel von Alexander Osang in den Kopf („Über Ostdeutsche, die jetzt eine neue Rolle als Migranten bekommen haben“, 25. Mai 2018), in dem er beschreibt, wie er den Gazastreifen verlässt, Israel besucht und dabei die gegenwärtige Debatte über die Ostdeutschen in der Heimat reflektiert. Jemand hatte uns DDR-Kinder in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu Migranten im eigenen Land gemacht. Osang sprach mir aus dem Herzen, als er in diesem Zusammenhang über die Serie „Weißensee“ schrieb, die die DDR nur noch zwischen Stasi und Kirche verorte, ein westdeutsches Interpretationspanoptikum. Zurechtgelegt. Die Geschichte definierend. Nun also Migranten, konstatierte Osang, damit seien wir nun auch endlich auf der Couch. Willkommen in der Freiheit.

Wahrscheinlich hat das Rechenzentrum bald Risse – dann kann keiner was für die Räumung

Osangs Artikel war das Stück Stroh, das den Esel zum Umfallen brachte, wie ein arabisches Sprichwort ähnlich zu einem deutschen sagt. Ich war selbst viele Jahre in Palästina familiär verhaftet und habe dort gelernt, dass man vor seiner eigenen Heimat nicht flüchten kann. Aber welche Heimat?

Meine Stadt, Potsdam, hat sich verändert. Gerade wird die Fachhochschule für ein preußisches Arkadien mitteschön gemacht. Ein Bagger rammt am Rechenzentrum Stahlpfähle für den Wiederaufbau der Garnisonkirche in den Boden, so dass der Schnittplatz meines amerikanischen Freundes Matt im derzeitigen Künstlerrefugium zittert. Wahrscheinlich hat das Rechenzentrum bald Risse – dann kann keiner was für die Räumung, außer die Baupolizei. Und Gott vielleicht. Naja. Die Stadtführung bejubelt das Museum Barberini, das kürzlich DDR-Kunst ausstellte. Das Gästebuch quoll über vor Dankbarkeit, die Bilder endlich wieder zu sehen, und vor Wut über die fürchterlich politische Kuratierung an jedem Bild. Das ehemalige Interhotel steht als einziges Relikt einer sozialistischen Architektur noch am Wasser, weil der Kapitalismus es einem amerikanischen Besitzer vermacht hat, der Geschäft vor Ideologie stellt.

Mein Haus in der Bertinistraße ist inzwischen renoviert. Der Konsum zu Wohnungen umgebaut. Das gesamte Areal samt Fußballplatz privatisiert und eingemauert. Das Indianerwäldchen gehört wie die Villa darüber Herrn Döpfner, der hat sie eingezäunt. Ich kann meinen Kindern meine eigene Kindheit nicht mehr zeigen. Das „Haus der Jugend“, meine eigene Jugendzeit, ist längst geschlossen und privatisiert. Am Tiefen See entsteht eine neue geschlossene Wohnanlage nach der anderen. Die britische Militärmission hat Wolfgang Joop jetzt an Hasso Plattner verkauft, sie wird gerade renoviert. Das Baden im Heiligen See hat die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten auch mit vielen Wächtern nicht verhindern können. Ich arbeite heute in Babelsberg, und wenn es Sitzungen mit den wichtigsten Unternehmen am Standort gibt, der Filmuniversität, dem Hasso Plattner Institut, dem Wirtschaftsministerium, der Wirtschaftsförderung, dann bin ich der einzige Ostdeutsche.

„In die innere Immigration gehen“

Wie ein Migrant, der sich in der eigenen Stadt verlaufen hat und bedauernd angesehen wird, wenn er von früher erzählt.

Und wissen Sie: Es ist ein fürchterliches Gefühl. Ein Gefühl von Heimatlosigkeit im eigenen Zuhause. Es bringt mich durcheinander. Es macht mich wütend. Und es macht mich krank. Wollen Sie das hören? Nein? Die Stadt boomt, sie wächst, sie sieht toll aus. Ja? Ist das meine Stadt? Ist nicht ein Teil ihrer Geschichte im Abriss begriffen und zwar vollständig? Gerade werden nach 28 Jahren des bewussten Verfallenlassens die FH und die Schwimmhalle am Brauhausberg abgerissen. Das legendäre, architektonisch ebenfalls herausragende Minsk wird wohl folgen. Meine Stadt, ich habe sie nicht verlassen. Sie hat mich verlassen. Erzwungenermaßen.

Es geht nicht um Architektur. Es geht nicht um Ost-West. Es geht um Heimat. Um ein Gefühl. Um mein Seelenheil. Es gab in der DDR einen Begriff: „In die innere Immigration gehen.“ Genau das tue ich bereits seit Jahren. Und mit mir wohl tausende Landsleute auch. Nur manchmal kommt die Wut hoch. Dann wählen sie wohl AfD. Aber was macht das schon. Deren Chef, ein zugezogener Westdeutscher, war jahrelang Herausgeber der größten Potsdamer Tageszeitung und führte sie vom SED-Organ in die Pressefreiheit. Gauland wohnt jetzt auch in meiner Stadt

Peter Effenberg ist Geschäftsführer der transfermedia production services GmbH in Babelsberg und Herstellungs- und Produktionsleiter für Film und TV.

Peter Effenberg

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