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Landeshauptstadt: Von Grenzern vergewaltigt

Gedenkstätte Lindenstraße zeigt neue Ausstellung „Flucht in den Westen“

Innenstadt - Die Geschichten sind erschütternd. Sie erzählen von Mut, Hoffnung, Verzweiflung – und von letztlichem Scheitern. Einem Scheitern, für das alle bitter büßen mussten. Es sind Geschichten über die Unmenschlichkeit eines Systems, das sich selbst als Gralshüter der Weltgerechtigkeit empfand.

Acht Schicksale stehen im Mittelpunkt der Ausstellung „Flucht in den Westen“, die am morgigen Donnerstagabend in der Gedenkstätte Lindenstraße 54/55 eröffnet wird. Acht Fluchtgeschichten, die exemplarisch stehen für rund 2000 Menschen, die zwischen 1961 und 1988 in der Linden-, damals noch Otto-Nuschke- Straße, einsaßen, weil sie in den Westen wollten. Gabriele Schnell hat die Schau kuratiert, Farina Münch hat die Recherche betrieben, mit den einst Inhaftierten gesprochen, die oft zum allerersten Mal öffentlich über die Flucht und die Repressalien Auskunft gaben, denen sie anschließend vom SED-Regime ausgesetzt waren. Ziel sei es gewesen, alle Haftdekaden abzudecken, die unterschiedlichen, zum Teil sehr erfindungsreichen Fluchtwege und -methoden zu zeigen und auch die Geschichte der zahlreichen Fluchthelfer zu erzählen, sagte Schnell gestern bei der Vorabpräsentation der Ausstellung.

Einer dieser Helfer war Karl-August von Halle. Als junger Mann kam er 1956 von Westdeutschland nach West-Berlin und erlebte dort den Bau der Mauer mit. Wenig später lernte er im Ostteil der Stadt einen Pfarrer kennen, der Kontakt zu Studenten hatte, die über Pläne des weit verzweigten Kanalisationsnetzes verfügten. Von Halle erbot sich, Kurierdienste zu leisten. Er reiste mit westdeutschem Pass nach Ost-Berlin und instruierte Fluchtwillige über die unterirdischen Wege, die in die Freiheit führten. Die Stasi kam schließlich dahinter und stellte von Halle eine Falle. Ein Potsdamer Schauspieler, Horst Giese, nahm mit ihm in West-Berlin Kontakt auf, angeblich, weil er seine Frau in den Westen holen wollte. Die Stasi verhaftete von Halle auf dem Bahnhof Friedrichstraße, er kam nach Potsdam, wo ihn das Kreisgericht wegen „fortgesetzter Beihilfe zur Republikflucht“ zu zwei Jahren und zwei Monaten Haft verurteilte. Im Magdeburger Gefängnis bot ihm die Stasi die Freilassung an, wenn von Halle im Westen als IM tätig würde. Er ging zum Schein darauf ein, meldete die Offerte jedoch beim bundesdeutschen Verfassungsschutz und wurde von der Stasi fortan nie mehr behelligt. Später enttarnte Karl-August von Halle Horst Giese als Stasi-Spion.

Ergreifend ist das Schicksal von Eike Radewahn. Als 21-Jährige plante sie mit zwei Freunden die Flucht von Rumänien über die Donau nach Jugoslawien, von wo aus sich die Drei in den Westen absetzen wollten. Noch auf rumänischer Seite wurden sie entdeckt, unter Feuer genommen und, nachdem sie sich in Todesangst ergeben hatten, mit den Händen über dem Kopf bei bitterer Kälte über Nacht an einen Zaun gekettet. Radewahn war in der Nacht sexuellen Übergriffen ausgesetzt, am Morgen wurde sie von zwei Grenzsoldaten vergewaltigt. Im Potsdamer Stasi-Gefängnis wurde sie von Gefängnisschließern ebenfalls sexuell missbraucht. Noch heute sei die Frau „schwerst traumatisiert“, leide unter Panikattacken und habe „Selbstentfremdungsprozesse“ durchgemacht, sagte Münch.

Die Ausstellung ist in fünf ehemaligen Gefängniszellen im Hofgebäude untergebracht. In einer wird die allgemeine Fluchtgeschichte thematisiert – mit den wichtigsten Fluchtrouten. In den anderen vier Zellen hängen Texttafeln mit Fotos, die die acht Fluchtgeschichten erzählen. Einige der Protagonisten, auch Eike Radewahn, werden zur Eröffnung am Donnerstag erwartet. Ein Jahr hat sie im Gefängnis verbracht, bevor die Bundesrepublik sie freikaufte. Für 95 847 D-Mark – der DDR-Preis für ein Menschenleben.pee

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