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Befreiung der Konzentrationslager: Verlorene Erinnerung

Im kleinen südbrandenburgischen Tröbitz strandete zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein „Verlorener Zug“ mit Tausenden jüdischen Häftlingen. Seit Jahren fordert die Gemeinde ein Museum. Doch das Land Brandenburg lässt Tröbitz mit der Aufarbeitung bislang allein

Es ist eine der grausamsten und skurrilsten Geschichten, die sich Ende des Zweiten Weltkriegs in Brandenburg abgespielt haben: Ein Zug mit Tausenden jüdischen Häftlingen aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen bei Celle landete nach einer tagelangen Irrfahrt durch den immer enger werdenden Korridor des noch nicht von Alliierten besetzten Deutschlands, bis er in einem Wald im heutigen Landkreis Elbe-Elster von der Roten Armee befreit wurde. Die Soldaten brachten die Häftlinge in den nächsten Ort, nach Tröbitz. Das 1200-Einwohner-Dorf sah sich auf einen Schlag 2000 ausgemergelten und teils schwer kranken Menschen gegenüber, die gepflegt und versorgt werden mussten. Unglaubliche Szenen spielten sich damals ab – schreckliche, brutale aber auch rührende. Doch wer nach Tröbitz kommt, erfährt davon kaum etwas. Lediglich je ein Gedenkstein im Ort und auf dem jüdischen Friedhof erinnert an die toten Juden und Tröbitzer. Seit Jahren will die Gemeinde einen würdigen Gedenkort samt kleinem Museum einrichten, um an die Ereignisse rund um den als Verlorener Zug in die Geschichte eingegangenen Transport zu erinnern. Doch bislang scheiterte das an der Finanzierung. Aus Sicht von Bürgermeister Holger Gantke (CDU) ist dafür die Landesregierung verantwortlich.

60 000 Euro würde eine Ausstellung nach den Berechnungen Gantkes kosten. Die örtliche evangelische Schule hat sich bereit erklärt, einen der Räume in ihrem Mensa-Bau zur Verfügung zu stellen, dieser müsste gestrichen und mit Vitrinen ausgestattet werden. Schon jetzt lagert die Gemeinde die Einzelteile einer von Laien in den 1990er-Jahren zusammengeschusterten Ausstellung dort. Handgeschriebene Schautafeln lehnen an der Wand, auf dem Boden liegen symbolisch einige Bahnschwellen mit Stacheldraht darauf. Eindrucksvoll ist vor allem das Gästebuch, in dem sich Einträge vieler Angehöriger der Opfer finden.

Die Gemeinde selbst könne das Geld für eine Neugestaltung der Ausstellung nicht aufbringen, erklärt Gantke. „Wir haben keinen ausgeglichen Haushalt. Ich kann den Tröbitzern nicht vermitteln, dass Geld für die Sporthalle fehlt, aber ein Museum bezahlt werden kann“, sagt er. Als Johanna Wanka noch CDU-Bildungsministerin in Brandenburg war, habe sie den Tröbitzern die Mittel schon zugesagt, erzählt Gantke. Er habe sich darauf verlassen und sich deshalb sogar überreden lassen, in die CDU einzutreten. „Ich wollte eigentlich nie in eine Partei“, sagt der KFZ-Meister. Doch sein Einsatz wurde nicht belohnt, 2009 kam der Wechsel zu Rot-Rot und die CDU war nicht mehr in der Landesregierung. Damit verschwand auch Johanna Wanka von der Bildfläche. „Das Geld ist nie angekommen“, sagt der Bürgermeister.

Anfang des Jahres stellte er einen neuen Antrag, diesmal sollte Gantke sich an das SPD-geführte Ministerium für Infrastruktur wenden. Doch der Antrag auf die 60 000 Euro wurde Ende Januar 2013 abgelehnt. Ministeriumssprecher Jens-Uwe Schade betont, dass dies keine politische Entscheidung gewesen sei. Im Topf für die sogenannte Integrierte Ländliche Entwicklung sei schlicht kein Geld mehr. Grund sei das Auslaufen der EU-Förderperiode Ende 2013. „Alle Projekte sind bereits bewilligt. Nur wenn jemand kurzfristig abspringt, können wir noch umschichten. Das ist ein ungünstiger Moment“, sagt Schade.

Für Gantke ist das ein schwacher Trost. Auch das Kulturministerium und die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten sind mittlerweile involviert, doch dort hält man sich bedeckt. Konkrete Pläne scheint es noch nicht zu geben. Auch Briefe an Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) und an die mittlerweile zur Bundesbildungsministerin aufgestiegene Johanna Wanka blieben laut Gankte bislang ohne Resonanz. Am 23. April, dem Jahrestag der Ankunft des Verlorenen Zugs, kommen erneut Zeitzeugen und deren Nachkommen nach Tröbitz. „Wir brauchen endlich einen würdigen Ort, an dem wir uns versammeln und an die Geschichte erinnern können“, sagt er. Material, um eine kleine Ausstellung zu füllen, gebe es genug, meint Gankte. Es existierten noch Original-Dokumente und Video-Aufnahmen von Zeitzeugen.

Einer dieser Zeitzeugen ist Werner Mann. Der heute 78-Jährige kann sich noch gut an den 23. April 1945 erinnern. Als Zehnjähriger saß er gemeinsam mit seiner Familie im Keller der elterlichen Dorfgaststätte und wartete auf die vorrückenden Sowjets. Um 6 Uhr morgens öffnete sich die Tür und ein Soldat blickte in die verschreckten Gesichter der Manns. „Meinen Vater haben sie an die Wand gestellt und nach mehr Schnaps verlangt“, erinnert sich Mann. Doch die Soldaten hatten die Vorräte bereits geplündert, geheimen Nachschub gab es nicht. Minutenlang bangte Werner Manns Vater um sein Leben, bis die ukrainische Magd, die als Zwangsarbeiterin bei der Familie schuften musste, für ihn einsprang. „Das ist ein guter Mann“, sagte sie auf Russisch, und rettete ihm damit vermutlich das Leben.

Daraufhin wurde die Familie wie die meisten Tröbitzer aus ihrer Wohnung ausquartiert, um die überlebenden Zuginsassen unterzubringen. In den Waggons hatten Typhus und Tuberkulose um sich gegriffen, schon während der Fahrt waren mehr als 130 Häftlinge ums Leben gekommen und neben den Gleisen verscharrt worden. In Tröbitz wurden Einwohner zwangsverpflichtet, die Kranken zu waschen, zu desinfizieren und zu pflegen, einige andere meldeten sich freiwillig. Vor allem die Typhus-Epidemie wütete noch wochenlang, weitere 320 Männer, Frauen und Kinder starben daran. Unter ihnen befanden sich auch 26 Tröbitzer, die sich angesteckt hatten.

Die Manns wohnten während der Anwesenheit der jüdischen Häftlinge in dem Kegelraum, der sich hinter der Gaststätte befand. Die ältere Schwester von Werner Mann bekam eines Tages eine schwere Mandelentzündung, das Mädchen drohte zu ersticken. „Da kam einer von den Soldaten zu uns hinter und sagte, er würde uns helfen“, erinnert sich Mann. „Eigentlich gehörten wir ja zum Feind, aber er sagte, er sei Arzt und habe einen hippokratischen Eid abgelegt.“ Der Arzt tauchte ein scharfes Messer in kochendes Wasser und setzte zwei gezielte Schnitte im Rachen des Mädchens. Mit einem Schnaps sollte sie die Wunde desinfizieren. „Kurze Zeit später war sie wieder gesund“, erinnert sich Mann.

Doch nicht immer lief der Kontakt zwischen Tröbitzern, Sowjets und Juden so menschlich ab. Die ausgehungerten Häftlinge stürzten sich auf alles Essbare, was sie in den ihnen zugeteilten Unterkünften finden konnten, bedienten sich an den Kleiderschränken, um nicht in Lumpen umherlaufen zu müssen. Nicht alle Tröbitzer zeigten sich hilfsbereit, manche fühlten sich für etwas verantwortlich gemacht, was im fernen Berlin verbrochen wurde. Hinzu kam Antisemitismus und die Angst vor den sowjetischen Soldaten. Und auch die 26 Tröbitzer, die sich mit Typhus ansteckten und starben, sind bei manchen im Ort offenbar bis heute nicht verwunden. Doch bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses schwierigen Themas wird Tröbitz bislang alleine gelassen.

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