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Trauma Tschernobyl: Tourismus in der Todeszone

Vor 30 Jahren kam es in dem ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl zum GAU, heute boomt dort der Tourismus. Der Potsdamer Stefan Bär war schon mehrmals in Tschernobyl, nur Mitbringsel lässt er da.

Das hätte im Frühjahr 1986 niemand gedacht – dass Tschernobyl einmal zu einer Touristenregion würde. Am 26. April, vor genau 30 Jahren, explodierte im Kernkraftwerk einer der vier Reaktoren. Es war das weltweit erste nukleare Unglück, das als Super-GAU eingestuft wurde. Eine ganze Region wurde verstrahlt und evakuiert. Eine Wolke mit radioaktivem Material zog über ganz Europa. Mindestens 50 ukrainische Arbeiter starben sofort, Tausende Menschen an den Spätfolgen. Die damals moderne ukrainische Vorzeigestadt Prypjat unmittelbar neben dem Kraftwerk Tschernobyl wurde von den damals 50000 Bewohnern nie wieder bezogen – sie ist heute eine Geisterstadt, die langsam zerfällt.

Und trotzdem oder gerade deshalb zieht es seit 2002, als man die Region für Touristen öffnete, jährlich geschätzt 10 000 bis 20 000 Besucher in diesen unwirtlichen, gruseligen Ort. So viele, dass 2011 vorübergehend sogar eine Touristensperre verhängt wurde. Abgesperrt ist der Ort sowieso. Aus Sicherheitsgründen. Denn auch 30 Jahre nach der Katastrophe ist alles verseucht: die Bausubstanz, der Boden, alles was hier wächst, der Staub auf der Straße, das Wasser.

Aber sie kommen, die Touristen, und sind mittlerweile auch wieder willkommen. Sie sind für die Bewohner in der neu gebauten Ersatzstadt außerhalb der Sperrzone, 30 Kilometer um das Kraftwerk herum, eine wichtige Einnahmequelle.

Warum der Potsdamer Stefan Bär regelmäßig Tschernobyl besucht

Einer, der schon mehrmals dort war, ist der Potsdamer Stefan Bär. Das erste Mal flog er 2014 in die Ukraine. Warum? „Ich gehöre zu einer Gruppe Hobbyfotografen, die versteckte Orte und Ruinen besucht, fotografiert und dokumentiert. Genannt Urban Exploring. Tschernobyl ist der Heilige Gral der Urban Explorer“, sagt Bär. „Den langsamen Verfall der Stadt und ihre seltsamen Ruinen zu fotografieren, das ist ein Highlight.“ Für alle, die dort hinfahren, sei es, weil sie Fotos machen oder sich für die Historie und den wissenschaftlichen Background interessieren, ergibt sich ein interessanter Nebeneffekt: Man lernt Mitreisende aus der ganzen Welt kennen, die ähnlich verrückt sind, so nennt es Stefan Bär. Aufgeschlossene Menschen, Neugierige aus allen Berufs- und Altersgruppen. Viele bleiben auch nach der Reise in Kontakt oder treffen sich regelmäßig wieder in Tschernobyl. Auch vor Ort kennt man sich, bucht dasselbe Hotel, den vertrauten Reiseführer.

Einen solchen Guide und eine Besuchserlaubnis braucht man, um in die Sperrzone – so groß wie Luxemburg – zu kommen. Allein darf dort keiner unterwegs sein. In der Regel wird das alles von einer Agentur organisiert. Wer das Kraftwerk besuchen will, muss das explizit beantragen. Dort gelten noch verschärftere Strahlenschutzvorschriften. Wer sich daran hält, für den bedeuten ein paar Tage Tschernobyl und Prypjat keine nennenswerte Strahlenbelastung.

Das Geschäft mit den Touristen läuft

In diesem Frühjahr ist dort besonders viel los. „Prypjat ist voll. Die Touristengruppen geben sich die Klinke in die Hand“, sagt Bär nach seiner Reise im März. Es werde den Touristen immer leichter gemacht, Tschernobyl zu buchen, das Geschäft läuft. Zudem ist es vergleichsweise günstig: Ein Tagesausflug kostet um die 100 Euro. Man erkundet das Stadtzentrum von Prypjat, Wohnblöcke und Schulen, Versorgungseinrichtungen, das Krankenhaus, den berühmten Vergnügungspark mit dem viel fotografierten Riesenrad.

In diesem Frühjahr besuchte Stefan Bär mit seiner Reisegruppe auch verlassene Dörfer, in denen teilweise wieder Rückkehrer wohnen. Oft alte Menschen, die es in ihrer Ersatzwohnung in der Stadt nicht ausgehalten haben. Die einfach zurück in ihre Heimat wollten. Sie nehmen dort ein Leben ohne Infrastruktur, fließend Wasser und Strom in Kauf. Mittlerweile werden solche Rückkehrer von der Politik geduldet und sogar mit Lebensmitteln versorgt. „In manchen Gebieten dürfen sie sogar wieder das essen, was sie in ihren Gärten anbauen, wenn sie es nicht ohnehin tun, weil es ihnen egal ist, was eine Behörde rät.“ Auch eine der zwei orthodoxen Kirchen im Sperrkreis hat er fotografiert. Sie wird gepflegt und benutzt – von wem, das weiß keiner.

1500 Menschen arbeiten in der Sperrzone

Ansonsten ist die Sperrzone ein unbewohntes Land. Keine Menschen, keine Verkehrsmittel, keine Imbissbuden. Und so essen manche Touristen bei den Arbeitern in der Kraftwerkskantine. Im Werk, das aus weiteren drei Reaktoren besteht, sowie auf diversen Baustellen arbeiten noch immer 1500 Menschen, die auch für die Sicherheit und Wartung zuständig sind. Sie alle verlassen abends die Sperrzone.

Ganz abriegeln konnte man das Gebiet allerdings nie. Von Anfang an kamen Plünderer, holten raus, was sie brauchten, Möbel, Heizkörper, Autoersatzteile, Schrott. „Das war und ist natürlich alles verstrahlt und durchaus gefährlich“, sagt Bär. „Ich bringe mir jedenfalls kein Tschernobyl-Souvenir mit. Nur Bilder.“

Eine skurrile Kulisse wie in einem Science-Fiction-Film

Ein Muss für alle Tschernobyl-Touristen ist natürlich der zerstörte Reaktor. Außen mit dem sogenannten Sarkophag abgedeckt, innen erstaunlich gut erhalten, eine skurrile Kulisse wie in einem Science-Fiction-Film. Davor ist ein Denkmal für die verstorbenen Arbeiter und Feuerwehrleute zu sehen. Unmittelbar neben dem Reaktor wird derzeit an einer neuen riesigen und vor allem dauerhaften Schutzhülle gebaut. Nach dreißig Jahren ist die abgedichtete Reaktorruine nicht mehr sicher genug. Der neue sogenannte Shelter sieht aus wie ein mächtiges Tonnengewölbe. Stefan Bär hat ihn sich angeschaut und war beeindruckt. „Darunter hätte die Freiheitsstatue Platz. Stehend.“ Wer den originalen Reaktor fotografieren will, muss das vor 2017 machen. Dann soll der Shelter darüber gestülpt werden. Und lange halten.

Die Ukrainer müssen jetzt überlegen, wie es weiter gehen soll mit der Region. Mehr öffnen oder weiterhin abschirmen? Die Absperrung hatte den unerwarteten Effekt, dass sich Natur und Tier in der Mitte Europas vom Menschen ungestört entwickelten. Die Natur scheint mit dem Unfall erstaunlich leicht fertig geworden sein. Wer sich anpasste, überlebte. „Es gibt Überlegungen, das Gebiet weiter touristisch zu entwickeln. Oder das Gebiet zu einem riesigen Wildpark zu machen.“

Eine Mischung aus Abenteuer und Urlaub

Stefan Bär will im kommenden Jahr wieder hin, er hat noch nicht genug gesehen. Es ist jedes Mal eine neue Mischung aus Abenteuer und Urlaub. Morgens fahren Touristen wie er mit dem Arbeiterzug aus Slawutytsch, der neu gebauten Ersatzstadt, nach Prypjat und zum Kraftwerk. Abends machen sie nichts anderes als in anderen touristischen Orten: lecker essen, ausgehen in Bars oder Discos. 30 Jahre nach der Katastrophe boomt der Tschernobyl–Tourismus.

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