zum Hauptinhalt

PNN-Serie "Meine WM": Schaschlik, Wodka und ein Märchen

Mit der Serie "Meine WM" zeigen die PNN, wie Potsdamer und Brandenburger das globale Fußballspektakel erleben. Teil vier: Vor dem „Café à la Russe“ bekommen enttäuschte deutsche Fans Trost und Freude auf Russisch spendiert.

In der Potsdamer Lindenstraße wohnt das Glück. Vor einem Laden verheißt eine Werbung, dass Suppen glücklich machen. Oder man kommt zur Happy Hour im Irish Pub. Doch an diesem Sonntag hat das Glück dort Ruhetag, auch Suppe wird nicht gekocht. Aber Schamil Chabibov hat zu tun. Eingerahmt von Suppen, Currys und Guinessbier steht er vor seinem „Café à la Russe“ und brutzelt dicke Schaschlik-Spieße auf dem Grill.

Der Rauch vernebelt für einen kurzen Moment die Sicht auf den großen Fernsehbildschirm, auf dem die russische Fußball-Nationalmannschaft an diesem Sonntagnachmittag im WM-Achtelfinale gegen Spanien gerade ein Eigentor fabriziert hat. Schamil schaut gar nicht hin. Von seinem Standort hinterm Grill dürfte der Blickwinkel auf den Bildschirm im Ladenfenster des Cafés zu spitz sein, um zu sehen, was passiert. Später allerdings, als WM-Gastgeber Russland das Spiel sensationell gewinnt, wird Schamil in seiner roten Küchenschürze und seiner kurzen roten Hose über den Gehweg hüpfen, in der einen Hand eine Flasche Wodka, die andere zur Faust geballt. Es wird gut zwei Stunden brauchen, bis ein Elfmeterschießen dieses russische Märchen zu einem glücklichen Ende führt und die Gäste vor dem kleinen Café von Schamils Gastfreundschaft und Wodka erwärmt sind.

Neugierde auf die Welt stärker als das Heimatgefühl

Seit vier Jahren hat Schamil Chabibov das „Café à la Russe“ in der Lindenstraße. Aus dem Nordkaukasus, seiner Heimat, aus Usbekistan, der Ukraine und aus Russland hat er Rezepte für Borschtsch, Soljanka und Maultaschen mitgebracht. „Ich habe schon als Kind gekocht“, sagt Schamil, „für meine Geschwister und für die Verwandten.“ Er habe viel improvisiert und „nicht immer war es das Beste, was dabei rausgekommen ist“, gibt er zu. Aber heute lasse er niemanden anderen an den Herd. „Ich vertraue keinem“, sagt er mit einem Augenzwinkern.

Mit 22 trieb ihn das Fernweh von zu Hause weg. Seine Eltern wollten ihn nicht gehen lassen, doch seine Neugierde auf die Welt war stärker als das Heimatgefühl. „Ich wollte reisen“, erzählt er. Ein, zwei Jahre wollte er weg sein, geworden sind es bis jetzt 30. Und noch immer fühle er sich frei, das zu machen, was ihm gefällt. „Ich könnte sofort verreisen“, sagt Schamil. Am liebsten sei er in Italien. „Das Meer, die Landschaft, das Essen“, schwärmt er. Er mag die Italiener, komme gut mit ihnen klar, obwohl er fast kein Wort Italienisch spreche.

Für jedes WM-Tor der Russen kreist die Flasche

Doch die Sprache der Gastfreundschaft braucht nicht viele Worte, Schamil beherrscht ihr ABC perfekt. Und an diesem Sommer-Nachmittag endet das Alphabet bei W wie Wodka. Für jedes Tor, das die Russen bei dieser Fußballweltmeisterschaft schießen, schenkt Schamil Wodka ein, den guten russischen. Achtmal ließ er in der Vorrunde die Flasche kreisen, mit einer gewissen Trinkfestigkeit ging es also in die erste K.o.-Runde gegen Spanien.

Im Fernsehen übersetzt Reporter Oliver Schmidt die russische Gemütslage für die Aussichten auf einen Sieg: „Der Kopf sagt nein, das Herz sagt ja.“ Schamil hat 2:1 getippt. „Für uns natürlich“, stellt er klar. Sein Nachbar, der türkische Gemüsehändler um die Ecke in der Hegelallee, habe ein 3:0 für Spanien gewettet. Schamil lächelt etwas unsicher. „Das wird interessant“, sagt er – und meint das Publikum, das er an diesen Nachmittag erwartet. Bislang seien es nur deutsche Gäste gewesen, die sich die Spiele vorm „Café à la Russe“ angesehen haben und vorigen Mittwoch so nach Hause gegangen sein dürften, wie es Schamil hinter das 0:2 von Deutschland gegen Südkorea auf eine Tafel gemalt hat: Ein rundes Gesicht mit weit nach unten gezogenen Mundwinkeln. „Heute wird das Publikum gemischt“, sagt Schamil.

Russland habe sich verändert, sagt Schamil

Als Schamil jung war, hat er selbst Fußball gespielt, im einzigen Klub in seinem Heimatort. Mittelstürmer war er. „Ich war nicht schlecht, habe immer viele Tore geschossen“, erzählt er. Heute sei er „nicht unbedingt ein Fußballfan“. Zu viel Geld sei im Spiel, vieles habe sich verändert, was ihm nicht mehr gefalle. Auch Russland habe sich sehr verändert. „Damals“, erzählt Schamil, „hat man Leute von der Straße zu sich nach Hause eingeladen. Auch bei uns zu Hause waren oft Fremde zu Gast“, erinnert er sich. Heute sei das anders. „Die Menschen sind anders geworden, es ist eine andere Generation“, meint er. Doch er sei von Herzen Russe und vieles, was schlecht über das Land geschrieben wird, teile er nicht.

Es sind junge Landsleute von Schamil und ein paar Deutsche, die an diesem späten Nachmittag vor dem „Café à la Russe“ sitzen und hoffen, dass sich nach dem Ausgleich für Russland die Spanier vergeblich mühen, das 2:1 zu machen und es zum Elfmeterschießen kommt: Jedes russische Tor ein Wodka! Und als der russische Torhüter Akinfeev zwei Elfmeter hält und das Märchen perfekt macht, ist Schamil zur Stelle und schenkt ein. Dann greift er zur Fernbedienung, schaltet um zu einem russischen Sender, über den gerade ein Werbespot läuft. Es ist wie ein Abspann dieser russisch-deutschen Koproduktion in der Lindenstraße. Denn die Reklame zeigt: „Wooodka“, wie der gemischte Chor vor dem „Café à la Russe“ ausgelassen ruft.

Lesen Sie hier Folge eins der PNN-Serie "Meine WM": Singen wie die Gauchos.
Lesen Sie hier Folge zwei der PNN-Serie "Meine WM": Bodenständig im "Zeppelin".
Lesen Sie hier Folge drei der PNN-Serie "Meine WM": Welche Gasse?

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false