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Landeshauptstadt: Puzzle der Erinnerungen

Schüler des Humboldt-Gymnasiums verlegen „Stolpersteine“ für drei jüdische NS-Opfer

Als der 1874 in Neustettin geborene Siegfried Lehmann im Jahr 1920 seine eigene Anwaltskanzlei in der Brandenburger Straße gründet, ahnt er zunächst nicht, dass er rund 20 Jahre später seine Wahlheimat Potsdam wieder verlassen muss. Mit dem im Dezember 1938 vom NS-Staat erlassenen Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte verliert er im Alter von 64 Jahren seine berufliche Existenz. Die Lebenssituation seiner vierköpfigen Familie verschlechtert sich. Lediglich seinem älteren Sohn Günter und dessen Familie gelingt ein Jahr später die Flucht in die USA. Bis er Potsdam verlassen muss, lebt Siegfried Lehmann mit seiner Ehefrau Margarethe zwei Jahre im Jüdischen Altersheim in Babelsberg. 1942 wird das nunmehr mittellose Ehepaar nach Berlin gebracht. Von dort aus wird Margarethe Lehmann am 12. Januar 1943 im Alter von 60 Jahren mit dem sogenannten 26. Osttransport nach Auschwitz deportiert. Dort verliert sich ihre Spur. 1952 erklärt man sie für tot. Der in Berlin zurückgebliebene Siegfried Lehmann war bereits 1943 im Alter von 69 Jahren im Jüdischen Krankenhaus gestorben. Ein weiteres Opfer des Holocaust ist auch der zweite gemeinsame Sohn des Ehepaares, Alfred Lehmann. Bereits im Alter von 32 Jahren stirbt er 1941 im Konzentrationslager Groß-Rosen.

Für das Projekt „Stolpersteine in Potsdam“ gingen im Dezember des vergangenen Jahres insgesamt 14 Schüler des Humboldt-Gymnasiums auf Spurensuche. Unter der Leitung von Andrea Rauch, Lehrerin für Deutsch und Geschichte, erforschten sie die Lebensdaten und Schicksale von drei jüdischen Opfern des Nationalsozialismus. Unterstützt wurden die Zehntklässler bei ihrer Recherche von Monika Nakath vom Brandenburgischen Landeshauptarchiv und dem Rechtshistoriker Wolfgang Weißleder.

Im Rahmen eines Wahlpflichtkurses zum Thema „Gesellschaftswissenschaften“ lasen sich die Jugendlichen durch unzählige Akten, forschten nach alten Zeugnissen und besuchten das Landeshauptarchiv. Die Ergebnisse ihrer spannenden Zeitreise präsentierten vier Schüler der Projektgruppe am gestrigen Freitag im Humboldt-Gymnasium. Gemeinsam mit der Projektleiterin Andrea Rauch und der Schulleiterin Carola Gnadt stellten die Jugendlichen die Biographien der Verfolgten anhand aufwendig gestalteter Plakate und alter Portraits der Familie vor.

Bereits am kommenden Dienstag sollen die drei Stolpersteine in Gedenken an den Rechtsanwalt Siegfried Lehmann, seine Frau Margarethe und seinen Sohn Alfred um 17 Uhr in der Weinbergstraße 36 verlegt werden. Dort hatte die Familie ihren letzten, selbst gewählten Wohnsitz. Bis zu 120 Euro kann so ein Stein kosten, erklärt Birgit-Katherine Seemann, Fachbereichsleiterin für Kultur und Museum. Finanziert werden die Gedenkplatten durch Spenden. Neben dem Oberbürgermeister der Stadt und den Schülern des Humboldt-Gymnasiums soll außerdem der Enkel von Siegfried und Margarethe Lehmann, Ralph Lehmann, mit seiner Familie aus den Vereinigten Staaten anreisen.

„Das Spannende an unserer historischen Recherchearbeit war, dass wir nach und nach immer nur kleine Puzzleteile zusammenfügen konnten, die letztlich dann das große Gesamtbild ergaben“, sagt Rauch. Die Schülerin Anna Vogel erklärt, warum sie erst durch das Projekt gelernt hat, was wirklich hinter dem Holocaust steckt. „Im Geschichtsunterricht behandeln wir nur grobe Fakten“, sagt die 14-Jährige. „Doch durch die lange Recherchearbeit hatte ich das Gefühl, die Familie Lehmann persönlich zu kennen.“

Bereits seit 2008 beteiligt sich die Stadt Potsdam an der 2003 vom Kölner Künstler Gunter Demning ins Leben gerufenen Aktion „Stolpersteine – ein Kunstprojekt für Europa“. Seitdem wurden in Potsdam 26 Steine, jeweils vor dem letzten gewählten Wohnsitz der NS-Opfer, verlegt. So beispielsweise schon in der Friedrich-Ebert-Straße, am Platz der Einheit, in der Brandenburger Straße, in der Gutenbergstraße oder in der Siedlung Alt Nowawes.

Die Aktion soll auf die Schicksale von Opfern des Naziterrors, des Rassenwahns, der Intoleranz und Euthanasie aufmerksam machen. Mit den Stolpersteinen wolle die Stadt außerdem die persönlichen Lebensgeschichten der oft namenlosen Opfer visuell erfahrbar machen.

Mareike-Vic Schreiber

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