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Brandenburg: Ostfriesen-Schüsse in Lehnin

Nur selten kommt es zur Wiederaufnahme eines Strafverfahrens. Jetzt wurde ein Verbrechen, das vor 15 Jahren in Friesland stattfand, in Brandenburg rekonstruiert: Sitzt der Verurteilte zu Unrecht in Haft?

Die Heide blüht, die Feldlerchen zirpen, ab und zu schreit ein Kuckuck. Dann knallen Schüsse, der Waldrand wirft ein trockenes Echo zurück. Den Kuckuck auf dem Truppenübungsplatz Lehnin in Potsdam-Mittelmark stört das nicht. Aufregend ist es für die zwölf Beteiligten, die hier an diesem Frühsommertag Tatort und Ablauf eines Falles, der sich vor 15 Jahren in Ostfriesland abspielte, nachstellen. Philipp Cachée, der in Neuseddin ein Sachverständigenbüro für Schusswaffen betreibt, will dabei herausfinden, ob bei Beweisaufnahme und Ermittlung Fehler gemacht wurden, die dann zur unrechtmäßigen Verurteilung des Angeklagten führten.

Im Polizeiprotokoll steht: „Am 31.5.2000 gegen 16.15 Uhr kam es in Westerholt (Kreis Wittmund) zu einer Schießerei mit zwei Toten, zwei Verletzten und mehreren materiell Geschädigten. In diesem Zusammenhang ist M. K. dringend tatverdächtig.“ Der Fall machte deutschlandweit Schlagzeilen, von einem Amoklauf auf einem Aldi-Parkplatz war die Rede. „Ein 54-jähriger Arzt hat aus verletzter Ehre am Mittwoch bei einem Amoklauf in Westerholt in Ostfriesland zwei Männer vor einem Einkaufsmarkt erschossen. Hintergrund ist offenbar ein Streit zwischen zwei früher befreundeten Ehepaaren“, schrieb am 1. Juni 2000 auch diese Zeitung. Doch war es tatsächlich so?

Unbestritten ist, dass sich Täter und Opfer kannten. Die vier Angreifer, Syrer, haben vermutlich versucht, von dem gut verdienenden M. K., Kurde, Familienvater und in der kleinen Gemeinde angesehener Hausarzt, eine Art Schutzgeld zu erpressen. M. K. hat bei der Auseinandersetzung auf dem Parkplatz zwei der Angreifer aus dem Auto heraus erschossen. Aus Notwehr, sagt M. K. Das Gericht verurteilte ihn damals jedoch wegen Totschlags zu lebenslanger Haft. Seitdem sitzt er im Gefängnis und kann auch nach 15 Jahren nicht mit Freilassung rechnen, weil die Gutachter von einer besonderen Schwere der Tat ausgehen und er sie möglicherweise nach seiner Freilassung vollenden wollen könnte.

„Herr K. ist jetzt 68 Jahre alt, ein kleiner, gebrochener Mann“, sagt Anwalt Norbert Lösing. „Ein ernsthafter und nachdenklicher Mensch, der seine 3000 Seiten umfassende Akte auswendig kennt. Ich glaube ihm die Notwehrgeschichte. Er sagt, er habe seine Frau und das Baby, die mit ihm im Auto saßen, schützen wollen. Man fährt nicht mit Frau und Baby im Auto los, um eine Auseinandersetzung absichtlich herbeizuführen, wie es laut Akte gewesen sein soll.“

Der 51-jährige Fachanwalt für Strafrecht ist jetzt extra zu diesem Vororttermin von Lüneburg ins Brandenburgische gereist. Denn das sei in jeder Hinsicht etwas Besonderes: Die professionelle Inszenierung auf dem Schießplatz an sich, aber vor allem die Chance, dass es dadurch, wenn alles gut geht, zu einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens kommt. Das passiere laut Statistik in weniger als 0,2 Prozent der Fälle.

Nach dem ersten Gespräch mit der Familie von Herrn K. nahm er sich zunächst die umfangreiche Akte vor. Und stellte für sich selbst fest: Es wurden damals Fehler gemacht. So wurden Proben für eine Schmauchspurüberprüfung an den Getöteten erst nach Obduktion und Leichenwaschung genommen – Spuren konnten dann, wenig überraschend, nicht mehr festgestellt werden. Auch Beweismittel verschwanden – so ist die Tatwaffe nicht mehr auffindbar, und das, obwohl dem Inhaftierten jederzeit das Rechtsmittel des Wiederaufnahmeantrags zusteht. Gern hätte Lösing den Waffenlauf auf DNA-Material untersuchen lassen, und zwar mithilfe des von Cachée erfundenen Gunswab, der auch alte Spuren findet. Das ist nun nicht mehr möglich. Lösing ist zudem der Meinung, dass damals die Handverletzung an einem der Getöteten falsch gedeutet wurde. Und zum Splitterflug, der bei der Zerstörung einer Autoscheibe entstand, wurde nie ein Gutachten erstellt.

Dabei scheint das der entscheidende Dreh- und Angelpunkt zu sein: Wann und wie ging die Scheibe der Fahrertür zu Bruch? Hat M. K., der im Auto saß, die tödlichen Schüsse durch die Scheibe abgegeben? Oder war sie zu dem Zeitpunkt bereits zerstört, eingeschlagen von den Angreifern, die ihn von draußen mit einer Pistole bedrohten? Das ist die Aussage von M. K. „Dann wäre es Notwehr gewesen, dann müsste er sofort freikommen“, sagt der Anwalt.

Um das rauszukriegen, hat Lösing den Ballistiker Philipp Cachée mit einem neuen Gutachten beauftragt. „Ich habe im Internet gesucht, es gibt ja nicht so viele Experten. Er schien mir sehr professionell“, sagt Lösing. Cachée hat sich gründlichst auf die Rekonstruktion vorbereitet. Die Akte gelesen, Tatortfotos, Bilder der Beweisaufnahme und der Obduktion gesichtet. Hat Flugbahnen von Projektilen und Hülsen berechnet. Dann hat er einen Schießplatz angemietet und ein Auto besorgt, absolut baugleich mit dem von M. K., aus welchem geschossen wurde. Den Mercedes Vito fand er über eine Kleinanzeige. Der Besitzer wird ihn am Ende komplett und mit ganzer Scheibe zurückbekommen. Fünf neue Scheiben für die Fahrertür hat Cachée mitgebracht. Bei den einzelnen Schießversuchen sollen die Variante des Polizeiprotokolls als auch die von M. K. nachgestellt werden: Scheibe von innen durchgeschossen oder von außen eingeschlagen? Totschlag oder Notwehr?

Splitterflug und Projektilfundorte unterscheiden sich dabei erheblich, sagt Cachée. Sofern man sich alles genau anschaut und nicht achtlos zusammenfegt, wie es damals gewesen sein muss. Dieses Mal soll alles genauestens nachgestellt, dokumentiert und im Gutachten ausgewertet werden. Eine Schwachstelle, ein kleiner Fehler, und das Gutachten ist wertlos.

Kurz nach 8 Uhr sind alle Beteiligten in Lehnin: Philipp Cachée, ein Helfer zum Fotografieren, ein Bekannter von der Potsdamer Schützengilde Ravensburg 1465, der ihm Munition und Waffen reichen wird; eine Mitarbeiterin der Düsseldorfer Firma Coloprint, die mit einem 3D-Scanner den Innenraum des Autos und die Lage der Hülsen vermessen wird. Der Besitzer des Vito ist auch da und wird die Scheiben wechseln, seine Frau schaut zu und hofft, dass das Auto tatsächlich heile bleibt. Dazu kommt ein komplettes Drehteam der Produktionsfirma Weltenangler, das für den Fernsehsender n-tv arbeitet. In einigen Wochen soll auf n-tv Wissen gezeigt werden, was hier in der Lehniner Heide passiert. Vielleicht wird sogar ein neues Sendeformat daraus.

Beim ersten Versuch wird die Pistole – eine Sig Sauer P 226 Sport Classic II, genau wie die Tatwaffe – auf dem Fahrersitz auf einer Lafette befestigt. Dann wird die Scheibe von innen zerschossen. Im Glasbruch finden sich Puzzleteile, die eindeutig ein Schussloch darstellen. „So etwas wurde damals am Tatort nicht gefunden“, sagt Cachée. Anschließend wird mehrere Male die Variante von M. K. durchgespielt: Er sei auf dem Weg zum Schießplatz gewesen. M. K. ist Sportschütze, hatte Waffe und Munition dabei. Er hält spontan beim Supermarkt an. Dort laufen ihm die vier Syrer über den Weg. M. K. rennt zurück ins Auto, die Angreifer hinterher, treten gegen die Autotür, versuchen mit einer Pistole zu schießen, doch sie blockiert. Der Mann draußen verletzt sich dabei am Handballen und schlägt dann mit der Waffe die Scheibe ein.

Das ist nicht einfach, wie Cachée auf dem Schießplatz merkt. Es braucht mehrere Versuche, Zeit, die M. K. drinnen hat, um seine Waffe hervorzuholen und zu laden. Als die Scheibe eingeschlagen ist, gerät er in Panik und schießt auf die Angreifer. Um Frau und Baby zu schützen.

War es so? Cachée lässt mehrere Kameras alles aufnehmen. Neben dem Auto steht eine lebensgroße Puppe, auf der die Einschusslöcher markiert sind. Die muss er in der Rekonstruktion genau treffen. Und die Landung der Hülsen aufzeichnen. Und den Glasbruch der Scheibe. Schmauch- und Pulverspuren an Puppe und Glassplittern dokumentieren. Fünf Stunden braucht das Team für alle Durchläufe auf dem Schießplatz, dann geht es noch für eine Stunde auf einen verlassenen Parkplatz. Dort wird der Fall mit Kleindarstellern für die n-tv-Sendung nachgespielt. „Da kann man schon Panik kriegen, wenn von außen jemand wieder und wieder gegen die Scheibe hämmert“, sagt eine Darstellerin.

Anwalt Norbert Lösing hat noch am Abend seinem Mandanten ausrichten lassen, er sei optimistisch. Er wird nun einen Antrag auf Zulassung eines Wiederaufnahmeverfahrens stellen. Die dazu notwendigen neuen Beweise wird ihm das Gutachten von Philipp Cachée liefern. Frühestens im Sommer 2016 könnte es dann zu einer neuen Hauptverhandlung kommen. Dann wäre das Baby von damals 16 Jahre alt. Ein Teenager, der seinen Vater noch nie außerhalb der Gefängnismauern gesehen hat.

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