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Einstein Forum in Potsdam: „Nationalisten können das heute besser“

Sozialwissenschaftler Mischa Gabowitsch spricht im PNN-Interview darüber, wie Nationalpopulisten heute das Thema Solidarität besetzen, warum es keinen tragfähigen Gegenentwurf dazu gibt und was nun zu tun ist.

Herr Gabowitsch, das Thema Solidarität ist hinreichend bekannt. Warum hat das Einstein Forum dazu nun eine große internationale Tagung veranstaltet?

Solidarität hat heute einen schlechten Ruf. Das Wort klingt oft etwas verstaubt nach der linken Kultur der 1970er-Jahre. Internationale Solidarität und Arbeiterbewegung sind Begriffe, mit denen sich die meisten heute nicht mehr identifizieren können. Zum anderen beobachten wir, dass überraschenderweise gerade die Nationalpopulisten sehr gut darin sind, internationale Solidarität aufzubauen und zu beschwören.

Wie das?

Zwischen den nationalistischen Bewegungen gibt es nicht nur in Europa inzwischen exzellente Kontakte, sie haben oft dieselben Feindbilder. Ihre Gegner hingegen tun sich oft schwer damit, kulturelle Gemeinsamkeiten zu identifizieren – fast als hätten sie sich damit abgefunden, dass solche Gemeinsamkeiten national sein müssen.

Wie kommt es zu diesem Wandel?

Die Solidarität der linken Kultur hat über Jahrzehnte hinweg funktioniert, weil sie in ganz konkreten Milieus verankert war. Es ging nicht nur um den Glauben an bestimmte Werte, sondern auch um eine geteilte Alltags- und Festkultur. Man stellte sich vor, dass der Arbeiter in Spanien dem in England ähnelte, und dass es ihm ähnlich schlecht erging. Das ist verloren gegangen – die Gewerkschaften etwa sind nur noch für die wenigsten ein Lebensmittelpunkt. Wohingegen die Nationalpopulisten eine sehr gute Nase für die Dinge haben, die Solidarität unterfüttern können.

Zum Beispiel?

Die Eckkneipe, der Schrebergarten, der eigene Arbeitsplatz. Populisten suggerieren nun, dass Migranten den Garten verschandeln, die Kneipe schließen oder den Sonntagsbraten verbieten wollen. Es werden Dinge benannt, die zunächst einmal nicht mit Politik in Verbindung stehen. Sie sind unterschiedlich, für jeden Einzelnen sehr persönlich besetzt. Die Populisten bündeln diese Bezüge und stülpen ihnen dann ihr politisches Projekt über. Oft genug geht diese Strategie wunderbar auf.

Wie auch in den USA.

US-Präsident Donald Trump ist ein gutes Beispiel: Man kann nicht davon ausgehen, dass alle seine Wähler mit seinem Programm einverstanden sind – zumal er gar kein richtiges Programm hatte. Auch aus seinen vielen Auftritten lässt sich nur schwerlich eine bestimmte politische Linie herauslesen. Aber es geht auch nicht nur um Emotionen. Vielmehr ist Trump sehr gut darin, an lebensweltliche Dinge anzuknüpfen, die den Menschen ohnehin schon sehr wichtig sind – und ihnen das Gefühl zu geben, dass nur er sie versteht. Das können die Nationalisten heute zumeist besser als ihre Widersacher.

Eigentlich ist das doch nicht neu, schon die Nationalsozialisten haben die ausgrenzende Volksgemeinschaft zum Solidarprojekt gemacht.

Das stimmt, geändert hat sich aber, dass es keinen vitalen Gegenentwurf mehr dazu gibt. Wir sprechen viel von globaler Gerechtigkeit – aber solche Begriffe sind heute etwas blutleer geworden, im Vergleich zu dem, was man in der Arbeiterbewegung hatte. Deswegen haben Demonstrationen heute übrigens eine neue Bedeutung. Es geht nicht nur darum, für eine Meinung einzutreten – auf der Demo bekommen die Menschen das seltener gewordene Gefühl einer emotionalen Resonanz, des Zusammenseins mit anderen, die ihr Lebensgefühl teilen.

Verliert Solidarität heute an Bedeutung?

Empirisch gesehen hat das Miteinander abgenommen, Vereine schrumpfen. In vielen Ländern gibt es das Phänomen der sozialen Atomisierung. Früher ging man gemeinsam kegeln, heute steht der Buchtitel „Bowling Alone“ für die Entwicklung in den USA. Gerade deshalb erscheint es den Menschen andererseits umso wichtiger, den Gedanken der Solidarität irgendwie neu zu beleben. Denn solidarische Gemeinschaften sind es doch, die letztlich Gesellschaft überhaupt mit Leben erfüllen.

Welche Antworten auf diese Herausforderung gibt es?

Ich bin der Meinung, dass wir die Dinge, die uns persönlich viel bedeuten, stärker ernst nehmen müssen. Lange Zeit wurde versucht, Öffentlichkeit als herrschaftsfreien Raum zu gestalten: Beim Eintritt legen wir alles Persönliche ab und kommunizieren als abstrakte Staatsbürger miteinander. Diese Idee bleibt eine wichtige Errungenschaft. Um neue Solidarität zu schaffen, müssen wir aber manchmal einen Teil dessen, was uns als Person ausmacht, in die Öffentlichkeit mitnehmen. Sonst füllen die Populisten diese Lücke – wobei sie uns aber auf das Nationale reduzieren.

Wie könnte solch eine Personalisierung etwa dann aussehen?

Ein Beispiel: Wenn ein Mensch auf der Flucht nach Deutschland kommt, sollte man nicht nur mit der abstrakten Pflicht zur Aufnahme argumentieren, sondern auch den Mut haben, Gemeinsamkeiten zu benennen. Der berührendste Vortrag auf unserer Tagung war der von Pietro Bartolo, der als Arzt auf Lampedusa seit 14 Jahren Flüchtlingen das Leben rettet. Er sprach von Menschlichkeit, verwies aber auch auf konkrete Traditionen und Erfahrungen: Die Bewohner der Insel wissen um die Tücken des Meeres und fühlen eine ganz konkrete Solidarität mit den Schiffbrüchigen. Auch Bartolo selbst war früher Fischer und wurde nach einer Havarie aus dem Meer gerettet.

Auch auf der internationalen Ebene hat es die Solidarität schwer, etwa beim Klimaschutz oder der Verteilung von Flüchtlingen in der EU. Sind solche Ideen also vielleicht nur Illusionen?

Im 19. Jahrhundert war die gesamtdeutsche Solidarität noch eine Utopie. Und es hat schließlich doch funktioniert – mit positiven und negativen Auswirkungen. Heute empfinden viele Menschen – auch ich persönlich – die Europäische Union sehr konkret als ihre Heimat. Neue nationale Grenzen würden vieles zerstören, was mittlerweile Teil unseres Alltags geworden ist. Es geht nicht darum, einen globalen Staat zu schaffen. Aber es gibt Bereiche, in denen die Probleme nicht an den nationalen Grenzen aufhören.

Was meinen Sie?

Gerade der Umweltschutz könnte heute zur Grundlage für eine neue globale Solidarität werden – auch davon war auf unserer Tagung die Rede. Von Indien bis Kanada und von Südafrika bis Russland gibt es Beispiele dafür, wie politische Gegner bei Umweltthemen unerwartete Gemeinsamkeiten finden. Die entsprechenden Bewegungen können sogar zur Heilung von Wunden beitragen, die Rassismus und Kolonialherrschaft hinterlassen haben. Wie überhaupt Brücken über unüberwindbar scheinende Gräben geschlagen werden können. Die Historikerin und Aktivistin Jennifer Stollman aus Mississippi erzählte davon, wie sie Südstaaten-Rassisten zum Umdenken bewegt, indem sie ihre tieferen persönlichen Probleme ernstnimmt und ihnen als Menschen mit Respekt begegnet. Man muss aber gar nicht so weit schauen.

Sondern?

Den Schlussakkord unserer Tagung bildete eine Vorstellung der „Neuen Auftraggeber“. Diese Initiative ermöglicht es jedem, ein Kunstwerk in Auftrag zu geben, das für die eigene Gemeinschaft Sinn ergibt – anstatt sich einfach fertige Werke elitärer Künstler vorsetzen zu lassen. Eines der erfolgreichsten Projekte wurde im märkischen Pritzwalk realisiert. Auch hier war der Schlüssel zum Erfolg, dass man die einzelnen Menschen ernstgenommen hat, statt sie als bloße Vertreter bestimmter sozialer oder politischer Gruppen zu sehen.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

ZUR PERSON: Mischa Gabowitsch (40) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Einstein Forum. Dort fand Ende der vergangenen Woche die internationale Tagung „Imagine Solidarity!“ statt.

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