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Potsdamer Historiker zu Nazis in der Bundesjustiz: Mindestens Fünf Nachkriegs-Juristen waren NS-belastet

Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker berichtet über erste Ergebnisse der Kommission zur NS-Belastung im Bundesjustizministerium. Seit Januar 2012 geht das Gremium unter Leitung des Potsdamer Historikers Manfred Görtemaker der Frage nach, welchen Einfluss Juristen mit NS-Vergangenheit auf die junge Bundesrepublik Deutschland nahmen.

Der Fall Eduard Dreher ist exemplarisch. 1940 hatte sich der Jurist von Dresden nach Innsbruck versetzen lassen, er wurde dort Erster Staatsanwalt am Sondergericht. Bekannt wurde Dreher dafür, dass er auch für Bagatelldelikte sehr harte Strafen forderte. In einem Fall etwa beantragte er für den Diebstahl von Stoff die Todesstrafe. Das Gericht folgte seinem Antrag zwar nicht. Doch Dreher ließ nicht locker, die zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilte Hausiererin kam in ein Arbeitserziehungslager, was einem Konzentrationslager entsprach. In einem anderen Fall verhängte das Sondergericht das Todesurteil gegen einen Gärtner, der ein Fahrrad unbefugt benutzt und Lebensmittel entwendet hatte. Nach dem Krieg saß Dreher bereits 1951 wieder im Bundesministerium der Justiz (BMJ), das 1949 aus dem Reichsministerium der Justiz hervorgegangen war. Dreher wurde hoher Ministerialbeamter und stieg in den 1960erJahren zu einem der einflussreichsten westdeutschen Strafrechtler auf.

Seit Januar 2012 geht eine unabhängige Kommission unter Leitung des Potsdamer Historikers Manfred Görtemaker und des Juristen Christoph Safferling (Uni Marburg) im Auftrag des Bundesjustizministeriums der Frage nach, welche der Juristen im westlichen Nachkriegsdeutschland eine NS-Vergangenheit hatten und welchen Einfluss sie auf die junge Bundesrepublik Deutschland nahmen. Erste Ergebnisse der Kommission zeigen, dass viele Richter, die im Namen der Nationalsozialisten Tausende Todesurteile verhängt hatten, wie auch NS-Staatsanwälte in der jungen Bundesrepublik wieder in wichtige Positionen gelangten. Ende der 60er-Jahre waren fast alle Abteilungsleiter des BMJ ehemalige Nazis. 1950 waren 47 Prozent aller leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder, 1959 waren es immer noch über 45 Prozent. „Die Mentalität, Leute zu übernehmen und weiter zu beschäftigen, war damals vorherrschend“, sagte Görtemaker jüngst auf einer Tagung zu dem Thema. „Damals gab es eine Kumpanei, die nicht nur im Bundesjustizministerium, sondern auch in den anderen Ministerien zu finden war.“ Die flächendeckende Belastung des Bundesjustizministeriums sei der eigentliche Skandal gewesen, meint der Professor für Neuere Geschichte der Uni Potsdam.

Im Bundesjustizministerium meinte man, die vorbelasteten NS-Juristen als Fachleute dringend zu brauchen. Doch das war nicht der einzige Grund, weshalb sie wieder eingestellt oder weiterbeschäftigt wurden. Es gab auch Kontinuitäten und Seilschaften, man schützte sich gegenseitig. Das Beispiel Eduard Dreher zeigt dies besonders deutlich. So ermittelte Ende der 50er-Jahre im Bundesjustizministerium Ministerialdirektor Josef Schafheutle intern gegen Dreher. Als Abteilungsleiter im BMJ war er mit dem Fall unmittelbar befasst und musste prüfen, ob die Vorwürfe, die damals in den „Braunbüchern“ der DDR gegen Dreher erhoben wurden, den Tatsachen entsprachen. Doch Schafheutle selbst war vor 1945 im Reichsjustizministerium für politisches Strafrecht zuständig. Er kam zu dem Ergebnis, dass Dreher nichts vorzuwerfen sei, da er gemäß der damaligen Rechtslage gehandelt habe. Während die Alliierten den NS-Juristen noch den Prozess machten, weil sie nicht unabhängig Recht gesprochen hatten, billigte die bundesdeutsche Justiz der NS-Justiz im Nachhinein das Recht auf Selbstbehauptung zu.

Dreher selbst arbeitete parallel zu den Ermittlungen im BMJ an einem Gesetz, das die Verjährung von Beihilfestraftaten – also auch Hinrichtungen auf Befehl und im Staatsauftrag – schon nach 15 Jahren vorsah. Offiziell sprach die damalige Bundesregierung nach der Verabschiedung des Gesetzes von einer Panne, doch die Staatsanwaltschaften mussten die Ermittlungen einstellen. „Dreher selbst profitierte also von dieser Verjährung“, so der Jurist Christoph Safferling. „Das erhärtet den Verdacht, dass er dies wissentlich initiiert hat“, so Safferling. Drei Fälle, in denen Dreher durch eklatante Ungerechtigkeit zwischen Anlass der Tat und dem Strafmaß aufgefallen war, waren im BMJ bereits aktenkundig. Safferling hat nun in Innsbruck recherchiert – und neun weitere Fälle aufgetan.

Der Fall Dreher ist nicht der einzige. Nach einem guten Jahr Arbeit der Kommission kann Manfred Görtemaker den PNN noch vier weitere Fälle von NS-belasteten Juristen nennen. Franz Maßfeller war vor 1945 im Reichsjustizministerium für Familien- und Rasserecht zuständig, hatte an den Folgebesprechungen zur Wannsee-Konferenz teilgenommen und war Kommentator des Blutschutzgesetzes. Nach dem Krieg war er bis 1960 Ministerialrat im Bundesjustizministerium und Referatsleiter Familienrecht – also ausgerechnet in dem Bereich, in dem er für den NS-Staat schon tätig gewesen war. Ernst Kanter hatte vor 1945 als „Generalrichter“ im besetzten Dänemark an 103 Todesurteilen mitgewirkt. Bis 1958 war er als Ministerialdirigent im Bundesjustizministerium tätig, anschließend wurde er noch Richter am Bundesgerichtshof.

Brisant ist auch der Fall von Hans Gawlik, ehemaliges NSDAP-Mitglied und als Staatsanwalt am Sondergericht Breslau an zahlreichen Todesurteilen beteiligt. Nach dem Krieg war er zunächst Verteidiger des SD des Reichsführers-SS und einiger Einsatzgruppenführer in den Nürnberger Prozessen. Nach 1949 leitete er die Zentrale Rechtsschutzstelle im Bundesjustizministerium, die Deutsche im Ausland „rechtlich“ betreute, die wegen ihrer Tätigkeit in der NS-Zeit von Strafverfolgung bedroht waren. „Das bedeutete, dass er sie vor einer möglichen Verhaftung warnte“, erklärte Görtemaker. Schließlich erwähnt der Historiker noch Walter Roemer, der vor 1945 Erster Staatsanwalt am Sondergericht München und dort unter anderem für die Prüfung und die Leitung der Strafvollstreckung von Todesurteilen zuständig war. Nach dem Krieg wurde er Ministerialdirektor und Abteilungsleiter Öffentliches Recht im BMJ.

Görtemaker und Safferling gehen nun der Frage nach, ob es sich bei den genannten Fällen um Einzelfälle handelt oder um die Spitze eines Eisbergs. „Dazu gehört auch die Frage, wie es zu erklären ist, dass die Bundesrepublik Deutschland bei allen möglichen Belastungen, die es im Justizbereich wie in vielen anderen Sektoren von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft offenbar gab, einen bemerkenswerten Grad an innerer Stabilität und demokratischer Entwicklung erlangte“, so Görtemaker.

Ein vorläufiges Fazit der Kommission besagt, dass Richter und Staatsanwälte nach 1949 weitergemacht haben, als hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Kein Richter und kein Staatsanwalt sei jemals von einem Gericht der Bundesrepublik Deutschland wegen möglicher strafbarer Handlungen, die er während des „Dritten Reiches“ im Amt verübte, verurteilt worden, betont der Potsdamer Historiker Görtemaker. Dies gelte ausdrücklich auch für die Staatsanwälte und Richter am Volksgerichtshof. „Die Tradition, die von den Alliierten mit dem Nürnberger Juristenprozess begründet wurde, ist in der Bundesrepublik nicht fortgesetzt worden“, sagte Görtemaker den PNN.

Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erwartet von der Arbeit der Kommission auch eine Antwort darauf, ob die personelle Kontinuität ebenfalls Auswirkungen auf die Gesetzgebung der Bundesrepublik hatte. „Welches Familienbild lag der Politik damals zugrunde, und gibt es Fortführungen aus der Zeit von 1933 bis 1945?“, fragt die Ministerin. Dem Bundesjustizministerium komme bei der Aufarbeitung eine hervorgehobene Rolle zu, da das Reichsministerium der Justiz eine besondere Rolle bei der Umgestaltung des Rechtsstaates in einen Unrechtsstaat gespielt hatte.

Die Kommission will nun nicht nur die Personen in den Blick nehmen, sondern auch schauen, wie diese die Politik beeinflusst haben, ob bzw. wie ihr Denken aus der NS-Zeit in Gesetzen fortgelebt hat. Grundsätzlich will man wissen, wie sich personelle Kontinuitäten auf das politische Handeln ausgewirkt haben. Dafür werden von den beiden Wissenschaftlern alle Organigramme des Ministeriums gesichtet und alle Personalakten der Mitarbeiter geprüft. Man will alle Puzzleteile zusammenfügen, um am Ende ein möglichst klares Bild zu erhalten. „Uns geht es um ein Gesamtbild, das es bislang noch nicht gibt“, erklärt Görtemaker. Andererseits will man bei den Einzelfällen auch genau hinschauen, was die Personen getan haben. Die Kommission interessieren nicht nur rechtskräftige Verstöße, sondern auch moralisch verwerfliches Handeln.

Die Aktenlage dafür ist überraschend gut. Im Keller des BJM in der Mohrenstraße fanden die Forscher den kompletten Personalaktenbestand. „Da wurde nichts geschönt oder geschreddert, das ist ein wahrer Glücksfall“, so Görtemaker. Eine erste Bestandsaufnahme ist erfolgt, am heutigen Mittwoch erscheint dazu eine Publikation der Kommission. Mit dem Abschlussbericht wird in zwei bis vier Jahren gerechnet.

Manfred Görtemaker / Christoph Safferling (Hg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit - eine Bestandsaufnahme, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 376 S.

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