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Interview mit Potsdamer Bildungsforscherin: „Lehrer diskriminieren die Schüler zu oft“

Sie erstarren, schauen nach unten, weinen - und sie sind beim Lernen blockiert: Kinder werden viel zu häufig von ihren Lehrern verletzt. Die Potsdamer Bildungsforscherin Annedore Prengel über die Beziehungen zwischen Pädagogen und Kindern.

Frau Prengel, in der Bildungsforschung werden wissenschaftliche Fragestellungen zu den Beziehungen zwischen Pädagogen und Kindern bislang eher am Rande behandelt. Wie erklären Sie sich das?

Beziehungsforschung hat gegenwärtig in den Bildungswissenschaften keine Konjunktur. Dabei ist der Bedarf nach mehr Forschung zu dem Thema eklatant. In der Schulforschung steht vor allem die Frage nach Leistungssteigerungen im Vordergrund. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es, wenn man sich der Beziehung zwischen Kindern und Pädagogen widmete, vor allem um Führungsstile. Mit der Pisa-Studie fokussierten sich Wissenschaftler dann eher auf die Schulleistungsforschung. Jetzt entdeckt man das Thema der pädagogischen Beziehungen langsam neu, denn es wird unübersehbar, dass gute kognitive Entwicklungen maßgeblich auch auf persönlicher Unterstützung beruhen.

Sie haben an der Universität Potsdam jüngst eine Konferenz zur Qualität pädagogischer Beziehungen und zu den Rechten der Kinder initiiert. Auf welche Forschungsergebnisse bezog sich die Konferenz?

Die Konferenz bezog sich auf Studien zu alltäglichen pädagogischen Beziehungen in allen Arbeitsfeldern: Schule, Kindertagesstätten, Jugend- und Sozialhilfe. Wie gehen berufstätige Erwachsene mit Kindern um, wie sprechen sie sie an, wie interagieren sie mit ihnen? Wie lassen sich pädagogische Beziehungen im Sinne der Kinderrechte verbessern?

Annedore Prengel, Jahrgang 1944, ist Erziehungswissenschaftlerin. Von 2002 bis zu ihrer Emeritierung 2012 war sie Professorin für<TH>Grundschulpädagogik an der Universität Potsdam.

Wie haben Sie die Interaktion zwischen Pädagogen und Kindern erforscht?

In einem Potsdamer Forschungsprojekt, Intakt – Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern, sammelten wir einen Datensatz von 15 000 Interaktionsszenen, sogenannten Feldvignetten. Sie wurden an circa 300 Beobachtungstagen in 120 Schulen protokolliert. Wir haben sehr viele Lehrkräfte vor allem im Anfangsunterricht, aber auch in den Sekundarstufen beobachtet. Zusammen mit der Potsdamer Sozialwissenschaftlerin Antje Zapf kamen wir in einem aufwendigen, mehrstufigen qualitativ-quantitativen Auswertungsprozess zu folgenden Ergebnissen: Durchschnittlich sind drei Viertel der Lehrer-Schüler-Interaktionen als anerkennend oder neutral einzustufen.

In den meisten Fällen funktioniert die Beziehung also gut?

Ja, mehrheitlich wird Anerkennung praktiziert. Wir konnten unendlich geduldige Ermutigungen durch Lehrerinnen und Lehrer, auch in schwierigsten Situationen, protokollieren. Und gleichzeitig kommen Diskriminierungen vor – und zwar zu viele. Annähernd ein Viertel der Interaktionen, die wir beobachtet haben, muss als verletzend eingestuft werden. Sechs Prozent aller Interaktionen sogar als schwer verletzend.

Was verstehen Sie unter Verletzungen?

Das sind für uns Äußerungen wie zum Beispiel: „Du bist dumm und faul.“ Aber auch Beschämung oder Lächerlichmachen und Bloßstellen vor anderen gehören dazu. Eine Missachtung der Rechte der Kinder stellt es aus unserer Sicht auch dar, wenn die Pädagogen die Kinder ignorieren, barsch adressieren oder anbrüllen. Den Kindern keine Grenzen zu setzen, ist übrigens auch eine Verletzung, eine Verletzung ihrer Fähigkeit, sich zu entwickeln. Rein rechnerisch wird jedes Kind im Durchschnitt zweimal am Tag Zeuge einer gravierenden Verletzung.

Wie reagieren die Kinder nach Ihren Erkenntnissen auf solche Verletzungen?

In den Interaktionsszenen wird das direkt körpersprachlich sichtbar: Die Kinder erstarren, schauen nach unten, weinen, wenige explodieren – alle verletzten Kinder sind erkennbar beim Lernen blockiert. Es gibt aber noch eine weitere Erkenntnis: Gerade im Anfangsunterricht übernehmen die Kinder den Stil der Lehrerin. Wenn die Lehrerin diskriminiert, neigen auch die Kinder untereinander eher zu Diskriminierung.

Ist es nicht eine Utopie, dass es in den Schulen nur noch liebevolle Zuwendung gibt?

Es geht nicht darum, sich eine heile Welt der Harmonie vorzustellen. In der Regel handeln Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter „good enough“, also „ausreichend gut“, wie das Prinzip der nicht perfekten, aber förderlichen Zuwendung fachsprachlich genannt wird. Sie sind meist zugewandt und feinfühlig und seltener missachtend. Die Frage ist: In welchen Fällen müssen die gravierenderen seelischen Verletzungen als unzulässig und als professionelle Kunstfehler definiert werden? Denken wir an andere Berufe. Ärzte zum Beispiel sammeln ihre medizinischen Kunstfehler, um diese künftig zu vermeiden. An solchen systematischen Strategien mangelt es im Bildungssystem.

Wie kann dem abgeholfen werden?

Es geht um die Frage, wie sich Kinderrechte auf der Beziehungsebene stärken lassen. Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Darum ist es notwendig, dazu zu forschen und öffentlich darüber nachzudenken. Denn alltägliche Diskriminierungen sind schwer juristisch zu greifen.  Die Eltern sind meistens nicht dabei, um einzugreifen. Und Eltern halten auch nicht immer zu ihren Kindern. In Berlin gibt es das Projekt BIBEK der Freien Universität, in dem Verfahren entwickelt wurden, um Beschwerdestellen in der Kinder- und Jugendhilfe zu implementieren. Wenn die Pädagogen wissen, in ihrer Institution gibt es eine Beschwerdestelle, ist das eine Hilfe zur Verbesserung der Einrichtungs- oder Schulkultur im Hinblick auf die Qualität pädagogischer Beziehungen.

Was sind die Gründe für diskriminierendes Verhalten von Pädagogen?

Die Gründe für das diskriminierende Verhalten sind vielfältig. Manche Pädagoginnen und Pädagogen handeln problematisch aus Überlastung. Andere sind davon überzeugt, richtig zu handeln, sie müssen lernen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. So wissen viele nicht, dass es falsch ist, negativ über ein Kind zu sprechen, während es dabei steht. Eine Schulrätin berichtete mir folgenden Fall, den auch wir ganz ähnlich wiederholt protokollieren mussten: Sie kommt in eine Klasse, die Lehrerin zeigt auf einen Jungen und sagt: „Das ist der Verhaltensauffällige hier.“ Die Tatsache, dass die Lehrerin unbefangen vor Zeugen so spricht, belegt, dass sie glaubt, richtig zu handeln.

Das heißt, es besteht ein Stück weit Konsens, dass dies zulässig ist.

Im Bildungssystem gibt es ganz verschiedene Normen, wie man mit Kindern umzugehen hat, man könnte von einer normativen Spaltung sprechen. Einerseits entspricht die Angemessenheit solcher Demütigungen dem Konsens in einem Teil der Bildungslandschaft. Andererseits wird diskriminierendes pädagogisches Handeln in einem anderen Teil der Bildungslandschaft abgelehnt. Der Riss geht mitten hindurch durch Kollegien und Teams. Bislang existieren keine allgemein festgelegten ethischen Normen für pädagogisches Handeln. Als Anschluss an unser Forschungsprojekt wollen wir einen Katalog an ethisch angemessenen Handlungsmustern erstellen. Solche professionellen Normen sind nicht utopisch, sondern sie lassen sich aus empirisch nachweisbaren Interaktionen im pädagogischen Alltag ableiten.

Der US-amerikanische Bildungswissenschaftler Robert C. Pianta hat auf der Konferenz das Inclass-Modell vorgestellt. Welche Erkenntnisse lassen sich aus dem Modell ableiten?

Robert C. Pianta forscht seit Jahrzehnten zu der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernendem, vor allem bei sogenannten „Children at risk“. Wenn solche oft traumatisierten Kinder trotz der Risiken einen erfolgreichen Bildungsweg absolviert haben, dann liegt es daran, dass sie eine gute Beziehung zu einem Lehrer oder zu einer Lehrerin hatten. Pianta hat ein Beobachtungssystem entwickelt, das „Individualized Classroom Assessment Scoring System“ - Inclass. Pädagogen können amerikaweit per Video ihre Arbeit filmen, das Video einschicken und sich zur Qualität ihrer pädagogischen Interaktionen kompetent beraten lassen. Das setzt natürlich voraus, dass sie lernbereit sind. Ein Problem aber ist, dass manche Lehrkräfte keine Einsicht in die Problematik ihrer Handlungsweisen haben. Sie nennen ihren Stil „streng“, merken aber nicht, dass sie Kinder damit demotivieren und kindliches Lernen blockieren.

Das Gespräch führte Grit Weirauch

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