zum Hauptinhalt

Potsdam-Mittelmark: „Ich stand wie vor einer Mauer“

Rudolf Günther war Pfarrer von Ragösen. Dass sein Stasi-Schatten im Kreistag sitzt, lässt ihm keine Ruhe

Bad Belzig - Rudolf Günther wollte nie ein DDR-Dissident sein. Doch der Pfarrer von Ragösen war auch nicht gerade systemkonform. Er sprach in seinen Gottesdiensten offen Probleme an, lehnte den NVA-Wehrdienst ab, sprach sich gegen den Wehrunterricht an Schulen und die Jugendweihe aus. Er traute sich, Umweltprobleme anzuprangern und nutzte bei den Wahlen als einziger die Wahlkabine: Er machte seinen Stimmzettel ungültig, später ging er gar nicht. Ein kleines „Nein“ zur Diktatur, „um des Evangeliums Willen“.

Pfarrer Günther warb für die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ und verweigerte die Teilnahme an einer Atomübung im Dorf. Er würdigte im Schaukasten der Kirche die Bemühungen von Gorbatschow und Reagan, mit dem INF-Vertrag das Atomwaffenarsenal abzurüsten. Und er unterhielt eine Partnerschaft zur Kirchengemeinde in Mülheim an der Ruhr, mit der man sich ungefiltert zu politischen Fragestellungen austauschte.

Ein politisch interessierter Landessynodaler, würde man heute sagen.

Man kann zu diesen Details das Gedächtnis des 80-Jährigen befragen. Oder seine Stasi-Akte, in der der meinungsfreudige Pfarrer zum Umstürzler mutiert: „Es muß davon ausgegangen werden, daß Pfarrer G. in der Perspektive Aktivitäten unternimmt, die darauf gerichtet sind, gesellschaftliche Veränderungen in der DDR herbeizuführen.“ Diese wie jede dritte Seite der Akte ist von Sieghard Rabinowitsch unterschrieben, heute mittelmärkischer Kreistagsabgeordneter der Linken. Im Juni 2011 war er nach dem Bericht einer Stasi-Kommission des Kreistags von der Mehrheit der Kreistagsmitglieder zum Rücktritt aufgefordert worden. Er verweigerte sich dem Votum, zwingen kann man ihn nicht. Ein hauptamtlicher Stasimann im Hauptorgan des Landkreises?

Anfang des Monats hat auch der Pfarrkonvent Belzig-Lehnin Rabinowitsch den Rücktritt nahegelegt, der Jahrestag für die Auflösung der Belziger Stasi-Zentrale gab den Anlass. Rudolf Günther hat mit dafür gesorgt, dass das Thema auf der Agenda bleibt. Er gehört zu denen, die die besten Gründe dafür haben – und sich trauen, sie auszusprechen.

Vergangenheitsbewältigung betreibt der Pfarrer im Ruhestand recht aktiv, ist seelsorgerisch für Stasi-Opfer tätig, auch für jenen Zeugen Jehovas – einer in der DDR verbotenen Glaubensgemeinschaft – der wegen Rabinowitsch ein Jahr eingesessen hat und nicht mehr reden will. Günther hat sich in die Geschichte des DDR-Spitzelsystems eingelesen, kennt Facetten und Details wie die Pläne für ein Internierungslager für Dissidenten im benachbarten  Verlorenwasser, die nur durch die Wende vereitelt wurden. „Wahrscheinlich wäre ich sonst dort gelandet.“

Er ist noch weiter gegangen und hat seit dem verweigerten Rücktritt Rabinowitschs nacheinander mit drei Kreispolitikern der Linken gesprochen, stundenlang. „Reden, um zur Ruhe zu kommen“, so nennt es Günther. Ein Versuch, auch mit Sieghard Rabinowitsch.

Er war keine tragende Säule der Stasi, eher ein gut geöltes Rädchen in Mielkes Überwachungsapparat. Seine Laufbahn verfolgte Rabinowitsch beharrlich: Noch während seines Wirtschaftsrechtsstudiums in Leipzig hatte er Kontakt zur Stasi bekommen, seine Spitzel-Karriere begann er 1979 als „IM Felicia“ mit 26 Jahren, lieferte Interna, die er als Justiziar mehrerer Agrarbetriebe erwarb. Er galt als treffsicher, zuverlässig, effektiv. 1981 wurde er als Hauptamtlicher der Kreisdienststelle Belzig geworben, wurde auf der „Linie XX“ tätig, die sich mit der Bekämpfung der inneren DDR-Opposition beschäftigte. Dazu wurden auch Kirchenaktivitäten überwacht. Rabinowitsch machte das offenbar recht gut.

1984 bekam er für seine Verdienste die „Medaille für Waffenbrüderschaft“, seit jenem Jahr leitete er sein Referat „Politischer Untergrundtätigkeit“. 1986 bekam er die „Verdienstmedaille der NVA“, vor allem, weil er die „Abwehrarbeit Kirche“ so gut organisierte. Er pflegte seine Informellen Mitarbeiter, schrieb „Operativpläne“ und gab strafrechtliche Einschätzungen, die im Fall Günther („Herabwürdigung der staatlichen Organe“) für eine dreijährige Inhaftierung gereicht hätten.

„Er lieferte die Argumente für Grausamkeiten“, sagt Rudolf Günther. Er verletzte grundlegende Menschenrechte, würde man heute sagen.

Als sich die beiden trafen, unterhielten sie sich über die Stasi in Belzig, über den Lebenslauf eines Stasi-Offiziers. Rabinowitsch habe geäußert, dass ihm die Informellen Mitarbeiter von damals heute leid täten, das Fazit eines Führungsoffiziers.

Sie kamen zum Fall des „Pfarrers G.“, dem halben Dutzend IMs und weiterer Spitzel, die auf ihn angesetzt waren. Rabinowitsch hatte noch im Juli in den PNN behauptet, nie mit dem Ragösener Pfarrer zu tun gehabt zu haben. „Da habe ich ihm seine 30 Seiten aus meiner Stasi-Akte auf den Tisch gelegt“, schildert Günther den Gesprächsverlauf. Als Antwort kam ein langes Schweigen. Und dann: „Ihnen ist doch nichts passiert.“

Er habe ein Eingeständnis des Unrechts, eine Entschuldigung, eine Geste wenigstens erhofft. Es hätte gut getan und ein Unrechtsbewusstsein gezeigt, sagt Günther. „Ich wollte herausfinden, wo dieser Mann gefühlsmäßig steht. Ich stand wie vor einer Mauer.“ Am Ende habe er Rabinowitsch geraten, aus dem Kreistag auszutreten, seiner Fraktion nicht länger zu schaden. Und er hat ihn gewarnt: „Ich lasse Sie nicht in Ruhe.“ Rabinowitsch behielt sein Mandat.

„Bei Pfarrer G. handelt es sich um den einzigen Pfarrer des Kirchenkreises Belzig, der gegenüber staatlichen Vertretern eine negative Einstellung ... offen zum Ausdruck brachte“, heißt es in einem der letzten Berichte des Stasi-Hauptmanns Rabinowitsch über Rudolf Günther. Der operativen Personenkontrolle sollte sich – im gedrechselten Stasijargon – der „operative Vorgang Dreieck“ anschließen – die „höchste Form der Feindbearbeitung“, an deren Ende häufig die Verhaftung stand. Der Befehl war abgesegnet von Generalmajor Helmut Schickart, Chef der Stasi-Bezirksverwaltung in Potsdam, am 14. September 1989.

Für Rudolf Günther war es spät genug. Er sollte bald darauf mit Günter Baaske zu den Begründern der Ost-SPD im Kreis Belzig gehören und war am 11. Dezember 1989 bei der Auflösung der Stasizentrale in Belzig dabei: Pfarrer Günther suchte nach dem Raum mit den Kirchenakten. Dort hat er Rabinowitsch erstmals gesehen, im Stuhl versunken, vor leeren Schränken. Wo sind die Akten? „Sie haben alles mitgenommen.“

Zur Startseite