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Kultur: Geschichte erzählen

Helen Thein-Peitsch und Helmut Peitsch über DDR-Kindheiten und DDR-Familien in der Literatur

Unter dem Titel „Fabelhafte Familien? – Kindheiten in der DDR“ befragen Sie am morgigen Donnerstag die Schriftsteller Marion Brasch und André Kubiczek, wie sie ihre autobiografischen Erinnerungen in ihren Romanen verarbeitet haben. Wie spiegelt sich die Erinnerungen an die DDR in den vergangenen 20 Jahren in der Literatur wider?

Helmut Peitsch: Es gibt Untersuchungen, die auch die Kinder- und Jugendliteratur mit einschließen, und da sind bis 2004 insgesamt 65 Bücher erschienen, davon aber allein 50 bis 1996. Aber die Titel, mit denen die Aufmerksamkeit auch im Feuilleton beginnt, waren Jana Hensels „Zonenkinder“ aus dem Jahr 2002 und Claudia Ruschs „Meine freie deutsche Jugend“ aus dem Jahr 2003. Dann erschien 2004 von Jens Bisky „Geboren am 13. August – Der Sozialismus und ich“ und ein Jahr später dann von Christoph Dieckmann „Rückwärts immer. Deutsches Erinnern“. Seitdem ist da eine Kontinuität zu erkennen bis hin zu Uwe Tellkamps „Der Turm“ und Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“.

Helen Thein-Peitsch, geb. 1969, studierte Gender Studies und Jüdische Studien in Berlin und Potsdam. Sie ist Mitarbeiterin der Bibliothek des Zentrums für Zeithistorische Forschung.

Was bei Büchern wie „Der Turm“ und „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, aber auch bei Marion Braschs „Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie“ und in André Kubiczeks „Der Genosse, die Prinzessin und ihr lieber Herr Sohn“ auffällt: dass hier die Familiengeschichten fast immer vor dem politischen Hintergrund der Entwicklung, Stagnation und Veränderungen erzählt werden. Ist das spezifisch für die Literatur über die DDR?

Helmut Peitsch:  Die Muster der frühen Bücher waren sehr stark vom Konflikt mit Eltern und Lehrern als regelrechte Feinde geprägt, gegen die sich dann eine andere Generation selbst konstruiert und die eigene Erfahrung als Widerstand oder als Wunsch nach Flucht deutet. In den späteren Text zeigen sich bestimmte Kontinuitätslinien, wenn Jens Bisky sich beispielsweise in seinen Eltern wiedererkennt oder Christoph Dieckmann von der bildungsbürgerlichen Tradition schreibt. Diese bildungsbürgerliche Tradition spielt ja dann bei Tellkamp und Ruge auch eine große Rolle.

Helmut Peitsch, geb. 1948, ist Professur für Neuere deutsche Literatur an der Universität Potsdam. Aktuell beschäftigt er sich mit literarischer Vergangenheitsbewältigung im Ost-West-Vergleich.

Helen Thein-Peitsch: Was bei den neuen Texte auffällt, dass nicht mehr autobiografisch erzählt wird, sondern die Romane geschrieben werden. Darum haben wir für unsere Veranstaltung Marion Brasch und André Kubiczek eingeladen.

Also Autoren, die in ihren Romanen Kindheit in der DDR verarbeiten?

Helen Thein-Peitsch: Zwei Autoren, die in ihren Romanen die eigene Kindheit in der DDR literarisch reflektieren, die einen Bezug zu Brandenburg haben und nun gemeinsam ins Gespräch kommen.

Warum haben Sie da beispielsweise nicht die Potsdamer Autorin Julia Schoch eingeladen?

Helen Thein-Peitsch:  Julia Schochs Texte sind für unsere Veranstaltung zu literarisch erzählt. Und offensichtlich hat sie da auch nicht ihre eigene Kindheit verarbeitet.

Das Autobiografische muss in den Romanen also immer erkennbar sein?

Helen Thein-Peitsch:  Gewollt erkennbar von den Autoren. Denn sowohl Marion Brasch als auch André Kubiczek verdecken ja nicht, dass es in ihren Romanen um ihre Familien geht.

Helmut Peitsch: Bei allen vier Autoren der Reihe – im September erwarten wir Irina Liebermann und Maxim Leo – kommt auch noch ein Migrationshintergrund hinzu. Das ist dann schon die Ausnahme. Bei Kubiczek geht es um eine deutsch-laotische Kindheit, bei den anderen drei sind es jüdische beziehungsweise russische Wurzeln. Allein das macht schon die Besonderheit dieser vier Texte aus.

Das sind vier außergewöhnliche Biografien. Wo bleibt da die normale DDR-Familie in der Literatur?

Helmut Peitsch: Bei Jana Hensel ist das schon so angelegt auf eine ganz normale Kindheit, denn sie hatte ja auch keine prominenten Eltern. Auch bei Claudia Rusch ist das so. Besonders deutlich wird dieser Wunsch, eine normale DDR-Kindheit darzustellen, in den Texten, in denen die autobiografische Ich-Erzählerin immer gleich vom Wir spricht. Jana Hensel und Claudia Rusch sprechen für ihre Generation und folgen so auch den vorgegebenen Mustern im öffentlichen Reden.

Helen Thein-Peitsch: Aber auch Julia Schoch beschreibt in ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ keine herausragende Familie.

Helmut Peitsch: Aber da wird vor allem die Nachgeschichte erzählt und nur in ganz kurzen Rückblenden taucht die Kindheit in den Plattenbauten auf.

Warum jetzt dieses Interesse an der DDR in der Literatur?

Helen Thein-Peitsch:  Mich persönlich interessiert es nicht, Marion Brasch zum wiederholten Male zu fragen, wie ihr Bruder Thomas Brasch, der bekannte Dramatiker und Lyriker, wirklich war. Uns interessiert, wie bewusst sie bestimmte literarische Strategien, die in ihrem Text ja erkennbar sind, verwendet hat, um über sich, über die DDR und über ihre Familie zu schreiben. Es geht uns um das Verfahren und inwieweit Marion Brasch das wahrnimmt, dass das auch eingebettet ist in ein Erzählen über die DDR.

Helmut Peitsch: Aber mit Hinblick auf ein Publikum, das auch zeithistorisch interessiert ist. Und das, was in diesem Gespräch von Marion Brasch und André Kubiczek über Literatur gesagt wird, auf die Zeitgeschichtsschreibung zu beziehen.

Was meinen Sie damit?

Helmut Peitsch: Martin Sabrow, Direktor am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung, hat ja viel zum Thema DDR-Gedächtnis veröffentlicht und dabei in bestimmte Typen, wie das Diktaturgedächtnis, das Arrangementgedächtnis und das Emanzipationsgedächtnis, unterschieden. Wir wollen sehen, wie sich die Texte möglicherweise darauf beziehen.

Aber die Zeitgeschichte als Wissenschaft hat sich an Fakten zu halten, Literatur hat die Freiheit der Fiktion. Wo sind da die Schnittmengen zu finden?

Helen Thein-Peitsch: Literatur entsteht immer in einem gewissen Kontext. Mit den Entstehungsbedingungen, aber auch den Diskursen, unter denen Literatur entsteht, kann man sich auseinandersetzen. Und meiner Meinung nach sollten Zeithistoriker auch Literatur als Quelle ernst nehmen.

Kann gute Literatur Geschichte nachvollziehbarer, stärker darstellen als manche Sachbücher?

Helen Thein–Peitsch: Wissenschaft ist für unser Leben immer wichtiger geworden. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Literatur einen enormen Einfluss darauf hat, wie über den Holocaust oder die DDR gesprochen wird. Das prägt massiv. Und wenn wir von Bestsellern reden, dann sind das fast immer Romane.

Das Gespräch führte Dirk Becker

„Fabelhafte Familien? – Kindheiten in der DDR“ mit Marion Brasch und André Kubiczek am morgigen Donnerstag, 18 Uhr, in der Gewölbehalle im historischen Kutschstall, Am Neuen Markt 9. Der Eintritt ist frei

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