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Kultur: „Es ist eben auch eine Generation, die immerzu relativiert“

In „Generation Mauer“ schreibt Ines Geipel über die in den 60er-Jahren in der DDR Geborenen. Am Dienstag stellt sie das Buch in Potsdam vor

Frau Geipel, im Vorwort zu Ihrem Buch „Generation Mauer. Ein Porträt“, das Sie am Dienstag in Potsdam vorstellen, zitieren Sie den Dramatiker Heiner Müller, der gesagt hat, dass diese Generation „ohne Vaterland und ohne Muttersprache“ aufgewachsen ist. Was meinte er damit?

Das sagte Müller in seiner Laudatio, als der Lyriker Durs Grünbein 1995 in Darmstadt mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt wurde. Also nur wenige Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR. Heiner Müller hatte diesen Generationsblick und wir, die Kinder der Teilung, waren ja symbolisch gesehen seine Kinder. Vaterland war für ihn die Idee, in dem Sinne seine Verwurzelung. Es gab sie nicht für uns. Die Generation Mauer, wie ich sie jetzt nenne, ist eine skeptische, distanzierte Generation im Hinblick auf die Ideologie. Wir waren als Fackelträger des DDR-Kommunismus gedacht, sollten dieses System umsetzen, es real werden lassen. Deshalb wurde ja zunächst auch viel investiert in die Ausbildung dieser Generation. Ich erzähle das vor allem als ein Aufwachsen in Kapseln. Gleichzeitig ist es eine Generation ohne Muttersprache, also mit einem sehr verzögerten Ich. Ich sage die Stottergeneration, die sehr lange brauchte, um zu ihrer Identität zu kommen. Eine durch und durch politische Generation also mit starken Hypotheken und Brüchen. Eine Erfahrungsgeneration. Diese Spannung hat Heiner Müller genau erkannt. Aber er nahm an, wir Mauerkinder laufen nach 1989 nur noch über Geschichtsgeröll und leben in den Träumen der abgedankten Kommunisten. Für ihn war die wirkliche Geschichte zu Ende. Er hat sich da ziemlich geirrt, wie wir jetzt allein an der Ukraine sehen.

Mit Generation Mauer bezeichnen Sie diejenigen, die in den 60er-Jahren in der DDR geboren sind und erzählen so auch Ihre eigene Geschichte.

Ja, das ist richtig.

Was war für Sie der Anstoß, sich so intensiv mit dieser Generation zu beschäftigen?

Der kam im Grunde aus dem Fehlen dieser Generation in den öffentlichen Debatten. Unsere Generation ist die zahlenmäßig stärkste. Im Grunde sind wir die Babyboomer des Ostens. Da habe ich mich gefragt: Wo stecken die eigentlich alle? Was machen sie? Klar kennt jeder Maybrit Illner, Henry Maske oder Till Lindemann. Aber die vielen dahinter? Was ist typisch für uns, für die Generation Mauer?

Und was lässt sich generalisieren?

Na, vor allem die starken politischen Koordinaten. Es ist die einzige Ost-Generation, die im totalen Einschluss groß geworden ist. Es ist die Generation, in der sich im Inneren die zwei deutschen Diktaturen ausgelebt haben als eine Art innerer Krieg. Die also mit den psychischen Belastungen der Großeltern und Eltern aus der Nazizeit und deren Paralyse durch den Mauerbau klar kommen mussten. Oder auch: Es ist die einzige DDR-Generation, die 1989 mit der DDR wirklich Schluss machen wollte, sie nicht mehr verlängern, reformieren oder zurückhaben wollte. Über 60 Prozent beispielsweise, die im Sommer 1989 über Tschechien oder Ungarn geflohen sind, waren Kinder der Teilung. Alles junge Leute, die mit ihren Füßen der Revolution den nötigen Drive gegeben haben. Und als die DDR zusammenbrach, waren sie eben jung genug, um wirklich anfangen zu können. Die große Welt kam über Nacht dazu. Die Soziologen nennen uns demnach auch die „Glücklichen“.

Und sind Sie in Ihren Gesprächen auf glückliche Menschen getroffen?

Es gibt viele aus dieser Generation, die die Zeichen der neuen Zeit gut nutzen konnten. Aber es ist auch eine gebrochene Generation. Ich erzähle in dem Buch vielfach Geschichten von denen, die angekommen sind, aber die Bruchlinien bei den Mauerkindern sind schon auch da. Mir ist in den Interviews ein Zusammenhang aufgefallen: Die, die aus belasteten Familien kommen oder auch harschen Zugriffen ausgesetzt waren, familiärer oder auch politischer Gewalt, konnten den Zeitschnitt 1989 oft nicht so unmittelbar für sich nutzen. Da hat die Diktatur eine erstaunlich lange Prägekraft besessen. Dennoch: Interessant für mich war, wie sich die politischen Brüche ins Private eingeschrieben haben. Und wie das geht, aus dem verordneten Wir-Glück zu einem Ich, zu einem ganz persönlichen Glück zu kommen.

Aber warum kommt diese Generation im Vergleich zur medial starken dritten Generation „Ost“ nicht zu Wort? Warum erzählt sie sich nicht, wenn es doch eine glückliche Generation sein soll?

Das hat wie so oft verschiedene Gründe. Der erste, der mir einfiele: Es ist eine Generation, die sich historisch gesehen erfüllt hat. Die Mauerkinder empfinden sich als die Davongekommenen und 1989 als das große Wunder. Oft hieß es in den Interviews: „1989 ist mein inneres Zentrum.“ Wenn man in der großen Geschichte seine Identität gefunden hat, muss man offenkundig nicht dauernd öffentlich darüber reden. Vielleicht ist dann die Grundstimmung des Lebens einfach eine frohe. Man ist sozusagen anhaltend heiter. Ein anderer Grund: Bizarrerweise steckt in der Generationsgeschichte dennoch dieses DDR-Wir. Es ist eben auch eine Generation, die immerzu relativiert. So ist sie beispielsweise klug genug, im Kontext der deutschen Geschichte auch den eigenen Schmerz relativieren zu können. Überhaupt ist es ja die letzte Generation, die noch eine echte, weil reflektierte und emotionale Verbindung zum 20. Jahrhundert hat. Und das macht es mit der Außendarstellung dann offensichtlich nicht so leicht.

Ist die Generation Mauer eine sehr selbstkritische Generation?

In jedem Fall, das fällt doch auf, es ist eine Generation, die trainiert darauf ist, sich stark zurückzunehmen, ich meine, zu stark. Die auch, das hat mit ihren Erfahrungen zu tun, eine explizite Skepsis gegenüber Macht und autoritären Strukturen hat. Es ist eine Generation der Kreativen und nicht der Manager. Sie braucht keine Helden, sondern schätzt es eins zu eins. Will sagen, sie hat ein ziemlich sicheres Verhältnis zur Realität. Und es ist eine, so wurde es in den Gesprächen gesagt, die viel Energie darauf verwendet hat, die erfahrene Gewalt in sich zu transformieren und sie beispielsweise nicht mehr an die Kinder weiterzugeben. Ich finde das alles nicht unsympathisch. Es sind die stillen Wege, die langsamen, es ist der lange Weg zur Identität. Vielleicht kann das nicht anders sein, wenn der Ausgangspunkt Vaterlosigkeit und eine fehlende Muttersprache sind.

Sie erzählen mit dem Buch über die Generation Mauer auch die eigene Geschichte. Ist bei dieser Auseinandersetzung überhaupt der nötige objektive Abstand zu finden?

Ich habe gar keine Objektivität gesucht, sondern wollte ein ganz persönliches Buch schreiben, und zwar entlang der Nahtstellen zwischen Einzelschicksal, Geschichte und dem Jetzt. Vor allem aber ging es mir nicht darum, von außen zu sagen: Das ist das Label dieser Generation und dann erstens, zweitens, drittens. Da ich die Geografie und die Zeit dieser Generation aus der inneren Physis heraus ja ganz gut kenne, wollte und musste ich vielleicht auch sagen, wer dieses Ich ist, das im Buch erzählt. Klar ist das dann auch eine Quadratur des Kreises, wenn auf dem Cover steht: „Generation Mauer“. Dann verlangt der Leser das Generalisierende. Er bekommt es auch, aber immer erst nach dem erzählten konkreten Leben. Ich wollte ja keine Klischees produzieren, wie es Generationsbücher doch zumeist sind, sondern noch einmal einen Vorschlag machen, über das eigene Leben nachzudenken. Es ist zuallererst eine Suche.

Wie hat die Auseinandersetzung mit Ihrer Generation den Blick auf das eigene Leben, die eigene Geschichte verändert?

Wenn man durch so eine Generationslandschaft läuft, dann doch auch mit der Frage: Was haben die anderen gemacht, wie gelebt? Ich glaube, ich wollte mich auch versöhnen, über die unerlöste Herkunft hinwegsöhnen. Will sagen, mit jedem Buch trägt man auch persönliche Tabus ab. Ich habe das ja nun schon oft erzählt: meine urkommunistische Familie, die Kälte, die Gewalt, das Verlorensein darin, die Indoktrinierung, die Kindheit in Dresden, im Tal der Ahnungslosen, das frühe Rausgeschmissenwerden. Es war zum Kaputtgehen, aber das passierte nicht. Eben durch die anderen, durch Neues, durch Freunde. Ich erzähle in dem Buch ja auch die Geschichte von Carla. Sie ist in Potsdam geboren und kommt aus einer Vertriebenenfamilie. Sie lebte ihren Protestantismus, ich atmete den Kommunismus aus. Da sind wir uns begegnet. Das Buch ist also auch ein Dank an die, die mich haben überleben lassen. Klingt ein bisschen groß, ich weiß, aber durch diese Bezugs- und Verknüpfungspunkte entsteht ja auch ein Generationsnetz.

Zum Ende Ihres Buches beschreiben Sie die Begegnung mit einer jungen Frau, geboren 1988, die ihrer Generation vorwirft, spießig, kleinbürgerlich, ohne Ideale und unpolitisch zu sein. Wie entstehen solche Vorwürfe? Zeigt sich da ein typischer Generationskonflikt oder besteht da eine besondere Sprachlosigkeit und ein besonderes Unverständnis zwischen den Generationen?

Es gibt dieses Unverständnis, sicher. Einerseits müssen sich Generationen abgrenzen, das ist ganz und gar notwendig. Das kann auch launig sein. Andererseits war genau das ja ein Grund, dieses Buch zu schreiben. Die Generation Mauer hat nun mal wirkliche Erfahrungen gemacht. Was die Jungen da so oft formulieren, dass sie heute gern etwas mehr DDR hätten, weil sie gar keinen Boden, keinen Grund mehr haben es ist schon klar, was sie damit sagen wollen. Sie kommen aus dem Chaos, sprechen von einer sich nicht auflösenden Verunsicherung in ihren Leben. Aber das wiederum ist so gar nicht das Problem der Generation Mauer. Die haben eher zu viel Erfahrung.

Würden Sie sagen, dass „Generation Mauer“ Ihr bisher persönlichstes Buch geworden ist?

Ja, sicher. Der Schriftsteller Wolfgang Hilbig hat mal zu mir gesagt: „Irgendwann musst du schon mal die Hosen runterlassen. Das gehört zum Schreiben dazu.“ Ich glaube, das war nach seinem Roman „Provisorium“. Es gibt so Schreibhäute, die müssen ab und zu aufgerissen werden, um rauszukriegen, was alles so drunter liegt. Danach kann man wieder stärker in die Prosa gehen, stärker fiktional werden, sich wieder stärker maskieren. Man ist freier, hat mehr Spielräume im Schreiben. Außerdem ist das Ich im Text ja eh die geschützteste Position. Es sitzt wie im Auge des Taifuns und hat so etwas Unanfechtbares.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Ines Geipel liest aus „Generation Mauer. Ein Porträt“ (Klett-Cotta, 19,95 Euro) am Dienstag, dem 13. Mai, um 19 Uhr in der Kleist-Schule in der Friedrich-Ebert-Straße 17. Der Eintritt kostet 6, ermäßigt 4 Euro

Ines Geipel, 1960 in Dresden geboren, war sechs Jahre lang Hochleistungssportlerin in der DDR und lebt als Schriftstellerin und Professorin an der Hochschule „Ernst Busch“ in Berlin.

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