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LER-Unterricht: „Es fehlt an qualifizierten LER-Lehrern“

Johann Ev. Hafner und Peter Kriesel über zehn Jahre LER-Studium an der Uni Potsdam und die steigende Zahl der LER-Abmeldungen an Brandenburgs Schulen.

Herr Hafner, in Brandenburg haben sich 2013 rund 12 Prozent der Schüler vom Pflichtfach Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) befreien lassen, um am Religionsunterricht teilzunehmen. Das sind doppelt so viele wie 2006. Überrascht Sie die Entwicklung?

HAFNER: Eigentlich nicht. Der Trend ist schon länger zu beobachten. Parallel dazu zeigt sich, dass der Einsatz fachfremder Lehrer in LER vor allem in den Gymnasien dazu führt, dass LER zu einem stiefmütterlich unterrichteten Fach wird. Vertretungslehrer bringen eine andere Identifikation mit dem Fach mit als jemand, der LER grundständig fünf Jahre studiert hat. Je mehr fachfremden Unterricht es gibt, desto mehr Schüler wandern ab.

Wir haben es also nicht mit einem allgemeinen Trend zur Religion zu tun?

HAFNER: Vielleicht ist auch ein Grund, dass wir in Brandenburg rund 20 Prozent konfessionell gebundene Bürger haben, die wünschen, dass ihre Kinder den konfessionellen Religionsunterricht besuchen. So entsprechen die Zahlen der Religionsschüler in den Gymnasien – hier gibt es die höchsten Werte – in etwa dem Anteil der Protestanten und Katholiken.

Vielleicht doch die viel beschworene Renaissance der Religion?

HAFNER: Im Gegenteil. Wir haben es in Mitteleuropa nach wie vor mit einem Abschmelzungsprozess von gesinnungsfester Religiosität zu tun. Ob die Talsohle erreicht ist, wissen wir nicht. In Deutschland gibt es mittlerweile über 30 Prozent Konfessionslose. Bemerkenswert ist aber, dass gleichzeitig die Religion im öffentlichen Diskurs immer bedeutender wird. Die Medien reflektieren das Thema zunehmend, das Interesse an Religion nimmt zu – aber nicht das Bindungsverhalten. Das kann natürlich daher kommen, dass Menschen vom Religionsunterricht eine Erklärung der Religionen erwarten. Das muss noch nichts mit spiritueller Sinnsuche und Orientierungsbedürfnis zu tun haben. Das ist vielmehr eine erhöhte Aufmerksamkeit auf das öffentliche Phänomen Religion.

Steht dem Westen die Entwicklung des Ostens noch bevor?

HAFNER: Davon bin ich überzeugt. Paradox daran ist, dass der Bedarf nach Erklärung der Religionen zunimmt, je weniger religiöse Menschen es gibt. Man will einfach wissen, was es mit den Ritualen, mit den Kirchen, Synagogen oder Moscheen auf sich hat.

In Brandenburg steigt die Zahl der LER-Abmelder, während es allgemein einen Trend zur Abkehr vom Religionsunterricht gibt. Eine gegenläufige Entwicklung?

HAFNER: In einem volkskirchlichen Milieu, wo viele Kinder traditionell im Religionsunterricht sitzen, aber ihre Sozialisation doch meist nur kulturchristlich ist, liegt die Abwahl des Religionsunterrichts sehr nahe. Das ist ein ganz anderes Ausgangsniveau als in Brandenburg, dem am meisten säkularisierten Landstrich. Wer hier Christ ist, ist es gegen die Umgebungskultur.

Was kann das Fach LER bewirken?

HAFNER: Man muss auch Menschen ohne religiösen Hintergrund die Möglichkeit geben, sich mit Weltanschauungen und religiösen Weltsichten bekannt zu machen. Weil wir damit ja permanent konfrontiert werden.

Es überrascht mich, dass Sie als katholische Religionswissenschaftler für einen gemeinsamen religionskundlichen Unterricht plädieren.

HAFNER: Der genuine Ort für die Bildung von Religiosität ist die Familie, die an der Gemeinde teilnimmt. Der Religionsunterricht kann das flankieren, aber kaum etwas aufhalten noch etwas befördern. In den Schulen kann man den Austausch fördern: Was glaubt jemand, der nichts glaubt, und warum glaubt jemand, der streng gläubig ist? Obwohl ich ein gläubiger Katholik bin und anders argumentieren müsste, bin ich überzeugt, dass LER das richtige Modell für die postchristliche Kultur ist, in die wir gegenwärtig eintreten.

KRIESEL: Ein ganz wichtiges Element von LER ist, dass man hier nicht übereinander, sondern miteinander spricht. So lernt man Unterschiedlichkeit auszuhalten und sich trotzdem fair zu begegnen. Der gemeinsame Diskurs über Ethik, Religionen und das soziale Lernen, das ist im Konzept von LER sehr gut angelegt.

HAFNER: Man darf auch LER nicht völlig auf die Religion reduzieren. Ein Großteil der Bachelorarbeiten, die in dem Fach geschrieben werden, sind nicht religiöse Themen, es geht auch um Mobbing in der Schule, Umgang mit Bulimie oder die dauerhafte Gegenwart von Handys im Unterricht.

Gibt es ausreichend ausgebildete LER-Lehrer an Brandenburgs Schulen?

KRIESEL: Nein, wir beobachten einen Rückgang an fachlich aus- und weitergebildeten LER-Lehrkräften. Das hängt damit zusammen, dass das Land ab 2006 sehr forciert in der Grundschule LER eingeführt hat, ohne überhaupt einen Vorlauf an Ausbildung oder weitergebildeten Lehrkräften zu haben. An den Gymnasien gab es dann den größten Rückgang an ausgebildeten LER-Lehrern: 2007 gab es dort 46 nicht in einem entsprechenden Studium ausgebildete Lehrer im LER-Unterricht, zurzeit sind es 109. Insgesamt sind heute 916 Fachfremde unter den 1440 Lehrern in LER! Das hält kein Fach aus. Sicher hat die wachsende Abwahl von LER auch damit zu tun, dass die Religionslehrer voll ausgebildet sind.

Von den LER-Absolventen der Uni Potsdam sind also noch nicht genug an den Schulen des Landes angekommen?

HAFNER: So ist es. Unsere Masterstudiengänge sind zurzeit mit rund 60 Studierenden pro Jahr voll. Wir sind damit einer der am besten ausgelasteten Studiengänge der Uni. Aber davon gehen pro Jahr eben nur sehr wenige Absolventen an die Schulen über, das sind vier, fünf pro Jahr. Eigentlich bräuchten wir viel mehr.

Sie befürworten auch, dass LER in den Gymnasien ausgeweitet wird.

HAFNER: Im Vergleich mit anderen Werte bildenden Fächern in anderen Bundesländern ist LER an den Gymnasien Brandenburgs gleichwohl amputiert, weil es mit der neunten bzw. zehnten Klasse endet. Danach gibt es keinen LER-Unterricht mehr. Wenn die Schüler wüssten, dass es auch in den hohen Klassen einen fachlich guten LER-Unterricht gibt, dann würde solch ein attraktives Fach auch in die unteren Klassen ausstrahlen. Momentan wird LER aber oftmals als ein weniger wichtiges Zwischenfach angesehen.

Ihre Forderung?

HAFNER: Wir haben eine Initiative beim Bildungsministerium gestartet, dass LER auch in der Sekundarstufe II im Wahlpflichtbereich der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer unterrichtet werden soll.

Warum ist Ihnen das so wichtig?

HAFNER: Weil gerade ab der zehnten Klasse weltanschauliche, religiöse und ethische Fragen verstärkt auftauchen. In diesem Alter setzen die Gedanken, wie man sich beispielsweise in der Frage von Krieg und Frieden oder Sterbehilfe positionieren soll, erst ein. In diesem Alter das Fach nicht anzubieten, ist ein Versäumnis, das es nur in Brandenburg gibt.

LER endet in Brandenburg mit der 10. Klasse. Was wird darüber hinaus angeboten?

HAFNER: Gar nichts! Nicht mal Philosophie, was im Fächerkanon formal möglich wäre, aber wofür das Land Brandenburg keine Lehrer ausbildet. Nur in den kirchlichen Schulen gibt es die Möglichkeit, Religion bis zum Abitur zu wählen.

Wie steht das Fach LER zehn Jahre nach Beginn des grundständigen Studiums an der Universität Potsdam da?

HAFNER: Die Studierendenschaft hat an der Fakultät die höchste Zufriedenheit mit ihrem Fach, ihr Zusammenhalt ist sehr groß, die Quote der Abbrecher- und Studienfachwechsler ist am geringsten, wir haben eine hohe Auslastung und Nachfrage und beste Ergebnisse bei der Akkreditierung. Die Mischung aus Ethik, Religionswissenschaft und Psychologie stimmt.

KRIESEL: Die hohen Studienbewerberzahlen sprechen für das Studium. Aber auch für die Beliebtheit des Faches bei Schülern. Denn Schüler würden sich ja nicht für das Fach bewerben, wenn es ihnen persönlich nichts gebracht hätte. Die Universität zehrt heute noch von Schülern, die von qualifizierten LER-Lehrern unterrichtet wurden. Das spricht für das Fach. Aber die Rahmenbedingungen müssten geändert werden. Es sind zum Beispiel bei gegenwärtig 340 fehlenden LER-Lehrkäften im Lande wesentlich höhere Einstellungszahlen von Absolventen aus dem Vorbereitungsdienst erforderlich. Auch andere Unstimmigkeiten gibt es noch.

Was meinen Sie?

KRIESEL: Zum Beispiel, dass der Religionsunterricht an den Schulen teilweise zeitgleich mit dem LER-Unterricht stattfindet. Das ist schlichtweg nicht statthaft. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die Schüler bei Interesse auch beide Fächer besuchen können. Die Zahl der Schüler, die beides besucht haben, war in vergangenen Jahren von 1369 auf 2830 angestiegen. Ein anderer Punkt ist, dass der Religionsunterricht heute so weit verweltlicht ist, dass man ihn für LER-Unterricht halten könnte. Der Religionsunterricht ist heute nicht mehr stark konfessionell ausgeprägt, sondern viel mehr religionskundlich.

Sie sagen, die LER-Lehrer sind ein Gewinn für die Schulen. Warum?

HAFNER: Weil sie sich um die Fragen kümmern, die auch den Klassenerhalt befördern. Sie beschäftigen sich mit Problemen wie Mobbing, Konflikten, Sucht und ähnlichen Themen. Das wird in der Klasse thematisiert, dort können die Schüler über ihre Erfahrungen sprechen. Insofern hat das eine soziale Funktion. Hinzu kommt, dass LER auch das kulturelle Gedächtnis aufrechterhält. Nehmen Sie die Geschichte des Christentums: Wenn das Land voller Kirchen steht, aber niemand mehr weiß, wozu der Altarraum da ist und was die Figuren zu bedeuten haben, dann führt das zur Musealisierung unserer eigenen Tradition. LER kann das lebendig halten.

Sie sehen die Säkularisierung kritisch?

HAFNER: Ich sehe die Gefahr, dass Religion als Thema verschwindet. Dass man sie nur noch als Epoche in Europa betrachtet, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende ging. Und dass wir dann nur noch sakrale Texte und Gebäude verwalten. Um nachvollziehen zu können, warum Kriege geführt wurden, warum die Menschen mit ganzem Herzen für Gott so Großartiges gebaut haben, dazu brauchen wir einen Religionskundeunterricht, wie ihn LER bietet.

Kann das Fach auch zur Wertebildung beitragen?

HAFNER: Wenn wir Werte nur noch als Zitate benutzen und nicht mehr einüben, dass man Werte auch vertreten muss, dann geht unserer Gesellschaft etwas Wichtiges verloren. In LER soll man eben auch lernen, die Überzeugung eines anderen als etwas Wichtiges zu sehen. Wir müssen den Schülern im Bereich Ethik vermitteln, dass es nicht nur Meinungen gibt, die man hat, sondern auch Überzeugungen, für die man einsteht oder nicht. Das unterscheidet ein Geschmacksurteil von einem Werturteil.

Wohin gehen die LER-Absolventen der Uni?

HAFNER: Zum Teil geben sie Ethikunterricht in anderen Bundesländern, zum Teil gehen sie nach Berlin oder auch Niedersachsen. Andere unterrichten eben LER in Brandenburg. Sie sagen uns, dass sie immer eine Sonderstellung im Kollegium einnehmen. Auch müssen sie sich teilweise vor dem Vorwurf schützen, dass in LER nur inhaltslos geredet werde.

Was geben Sie ihnen mit auf den Weg?

HAFNER: Dass ihr Fach eine Vorreiterrolle einnimmt. LER in Brandenburg kann zum Vorbild für die anderen Bundesländer werden – auch im Westen.

KRIESEL: Der integrative Ansatz des Fachs, die Verbindung von Lebensgestaltung, Ethik und Religionskunde, das ist das Bestechende. Das macht das Fach lebensnah. So wird die ethische Urteilsfähigkeit gefördert und gleichzeitig über religiöse und weltanschauliche Hintergründe aufgeklärt. Deshalb ist das Fach auch besonders interessant für die Sekundarstufe zwei. Das geht natürlich nicht mit fachfremden Vertretungslehrern. Dazu gehört viel Fachwissen, eine gute Ausbildung, wie hier in Potsdam, und jahrelange Berufspraxis. Dann kann das Fach sein Potenzial voll ausschöpfen.

HAFNER: Dass das Fach von Schülern gewählt wird, hängt auch stark davon ab, dass es sichtbar gute Lehrer gibt.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

Johann Ev. Hafner (50) ist seit 2004 Professor für Religionswissenschaft an der Uni Potsdam und für das Fach LER zuständig. Seit 2010 ist er auch Dekan der Philosophischen Fakultät.

Peter Kriesel (71) ist

Vorsitzender des Fachverbandes LER und im Ethik-Bundesverband aktiv. Er war Leiter des brandenburgischen

Modellversuchs und Dozent im LER-Weiterbildungsstudiengang.

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