zum Hauptinhalt

Kultur: Erinnerungen als Vorratskammer

Rainer Lindow veröffentlichte im Projekte-Verlag das letzte Werk seiner verstorbenen Frau Maria Seidemann: „Die Krähenjägerin“

Es ist geschafft. Rainer Lindow hat die Pflicht des Hinterbliebenen erfüllt. Eine Pflicht, die ihm half, die plötzliche Leere nach dem Tod seiner Frau zu füllen. Mit der Veröffentlichung des Romans „Die Krähenjägerin“ von Maria Seidemann ist ein Schlussstrich gezogen. Der Nachlass der Autorin, die vor zwei Jahren an Brustkrebs starb, liegt nun geordnet vor. Der Schriftsteller Rainer Lindow hat alle Bücher, Grafiken und kleinen Holzplastiken seiner Frau gesichtet, nummeriert und mit Titeln versehen, wo immer sie fehlten. Und er hat auch diesen letzten Roman von Maria Seidemann fertiggestellt, der gerade im Projekte-Verlag erschienen ist – wie zuvor zwei Kinderbücher der Potsdamer Autorin. Sie gehören mit zu den über 120 Werkausgaben, die in der Nationalbibliothek Berlin von Maria Seidemann erfasst worden sind.

Es gab nicht mehr viel zu tun für den Witwer, um „Die Krähenjägerin“ zu vollenden. „Tippfehler ausmerzen und mitunter passendere Worte finden“, um die konfliktreiche Geschichte der 14-jährigen Lisa, die kurz vor Kriegsende ihre Mutter und Oma im Bombenangriff verlor, so sinnfällig wie möglich zu beschreiben. Das Werk ist vollbracht. Und es ist gelungen. Das Buch liest sich wie aus einem Guss, spannend und emotional berührend von der ersten bis zur letzten Seite. Der Leser spürt nicht, dass da „fremde Hand“ angelegt wurde. Kein Wunder, Maria Seidemann und Rainer Lindow lebten schließlich auch künstlerisch in einer Symbiose. Sie lasen sich immer ihre Manuskripte gegenseitig vor, übten Kritik aneinander und wuchsen dadurch miteinander. „Oft mussten wir überlegen, auf welches Konto das Honorar für ein fertiges Werk überwiesen werden soll, denn mitunter flossen von beiden die Gedanken gleichermaßen ein. Manchmal eignete man sich auch die Gedanken des anderen an und dachte, sie sind dem eigenen Kopf entsprungen“, sagt Rainer Lindow in seiner leisen Art. Wie es bei der „Krähenjägerin“ gewesen ist, weiß er nicht mehr genau zu sagen. Auf jeden Fall gibt es viele biografische Details, die Maria Seidemann aus ihrem eigenen Leben mit einfließen ließ. So beginnt ihr Buch 1944 auf einem Güterbahnhof bei Leipzig, genau dort, wo sie selbst im Oktober 1944 geboren wurde. Als Rainer Lindow das Manuskript überarbeitete, fiel ihm die große Aktualität auf. „Die Leiden der Zivilbevölkerung durch den Krieg sind heute nicht anders als damals, wenn wir allein nach Syrien oder Afghanistan schauen. Die Väter sterben auf dem Schlachtfeld. Aber was wird mit den Hinterbliebenen? Was mit den Kindern?“

Lisa musste ins Kinderheim, nachdem auch ihr Opa von den Russen wegen angeblicher Sabotage mitgenommen wurde. Dort lernt das Mädchen den Außenseiter Martin kennen, der sein Gedächtnis verloren hat. Vielleicht war es für den jüdischen Jungen einfacher so, um den Tod seiner Familie im Konzentrationslager zu verwinden. Lisa nimmt diesen Jungen fest an die Hand. Sie schießt so wie einst ihre Mutter Krähen mit dem Katapult, um den abgemagerten kranken Freund zu ernähren. Denn Krähenfleisch schmeckt in der Hungersnot wie eine Delikatesse. Lisa kämpft sich durch, gerade weil sie für den Freund da sein möchte. Und weil sie, wie der Großvater, Lokführer werden will. „An ihre Familie zu denken, das war jetzt ein angenehmes, warmes Gefühl und außerdem ein bisschen so, als ob man in eine Vorratskammer ging, um sich etwas zu holen, das man brauchte“, heißt es am Ende über das starke Mädchen Lisa, das ihr Leben eigenständig in die Hand nimmt.

Auch für Rainer Lindow scheinen die Erinnerungen eine Vorratskammer zu sein. In seiner Wohnung stößt er überall auf Bilder, Figuren und Texte seiner Frau. Und noch oft kommt ihm plötzlich der Gedanke, dass gleich die Tür aufgeht und Maria Seidemann eintritt. „Es ist schwer zu sagen, wann Trauer vorbei ist.“ Die Kunstwerke der beiden hängen in der Wohnung in der Lennéstraße dicht an dicht. Überall stehen auch Bücher über Rosa Luxemburg in den Regalen, die Maria Seidemann akribisch sammelte. Sie wollte selbst irgendwann einen Roman über diese couragierte Frau schreiben. Oft las sie Rainer Lindow aus den bereits erschienenen Biografien vor. Er selbst malte Bilder von Rosa Luxemburg. Zwei hängen zwischen den Fenstern im Arbeitszimmer: mit tödlichem Schuss in der Stirn, begraben unter buntem Laub.

„Ich muss es schaffen, mich wieder um meinen eigenen Kram zu kümmern, wieder neu anfangen zu leben“, sagt der weißbärtige Mann mit dem feinen nach innen gekehrten Lächeln. Auch bei diesem Neuanfang scheint ihm Maria Seidemann mit auf die Sprünge zu helfen. Oft hat die einstige Historikerin und Schriftstellerin Holzreste in ihrem Garten gesammelt und daraus originelle Figuren geschnitzt und bemalt. Nach ihrem Tod türmten sich noch viele Teile auf, die sie zum Trocknen beiseite gelegt hatte. Daraus formt nun Rainer Lindow Plastiken, die er ebenfalls bemalt. Er schält seine Figuren nicht aus dem Holz heraus, sondern setzt sie zusammen. Wie die Erinnerungen. Wenn das von seiner Frau zusammengetragene Holz nicht gewesen wäre, hätte er wohl nie Skulpturen gemacht, vermutet Rainer Lindow. Im September kommenden Jahres gibt es eine erste gemeinsame Ausstellung: in der Zionskirche Berlin. Sie wird zeigen, wie zwei künstlerische Leben zu einer Symbiose verschmelzen können und doch ihre Eigenständigkeit nicht verlieren.

Maria Seidemann „Die Krähenjägerin“, 206 Seiten, erschienen im Projekte-Verlag, 12,50 Euro, Bestellung unter Tel.: (0345)68 65 665 oder www.projekte-verlag.de

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false