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Landeshauptstadt: Eine philosophische Angelegenheit

Johanna-Elisabeth Nehm stellt Unikate her, handgewebte Stoffe nach den Ideen ihrer Auftraggeber. Daraus werden Teppiche, Tischdecken – oder Hochzeitskleider

Johanna-Elisabeth Nehm ist nicht gleich zu sehen. „Kommen Sie rein“ sagt sie, versteckt unterm Webstuhl. „Ich muss gerade eine unliebsame Arbeit erledigen. Drei Fäden sind gerissen“. Kaum sitzt sie wieder auf der Holzbank, wird es laut. Es ruckelt und klappert, das hölzerne Schiffchen fliegt hin und her und rasselt unaufhörlich. Johanna Nehm ist Handwebmeisterin.

Sieben Webstühle stehen in ihrer Werkstatt, vier große, drei Meter zum Kubik, und drei kleine, von denen sie einen hin und wieder auf Märkte mitnimmt. Damit sie zeigen kann, wie so ein Stoff entsteht. Johanna Nehm versteht sich nicht nur als bloße Handwerkerin. Ihr sind ebenso der künstlerische als auch der philosophische Aspekt wichtig. Das sei ja alles miteinander verbunden, sagt sie.

Erst spät fand die heute 51-Jährige zu ihrem zweiten Beruf. 2008 machte sie nach jahrelanger Tätigkeit im sozialen Bereich ihre Ausbildung mit Meister in Geltow. „Ich wollte was Handwerkliches machen, wo ich jeden Tag Ergebnisse sehe und nicht immer wieder von vorn anfange“, sagt sie. Nach und nach kamen die Webstühle zusammen, einige stammen aus der letzten Weberei in der Babelsberger Benzstraße, die 1990 aufgelöst wurde. An einem, er stammt aus den 1950-er Jahren, klebt noch ein vergilbter Zettel mit den „Grundsätzen der sozialistischen Ethik und Moral“. Bei Johanna Nehm darf er dran bleiben.

Hier in der Werkstatt stößt ohnehin Alt auf Neu. Stoffe, die sie mithilfe dieser Jahrtausende alten Kulturtechnik herstellt, finden Käufer, die daraus moderne Produkte schneidern. Schafwolle, Alpaka, Baumwolle und Leinen müssen nicht zwangsweise zu groben Teppichen oder Mittelaltergarderobe verarbeitet werden – ein Klischee, das zwar oft passt, aber eben nicht immer. Gerade fertigt Johanna Nehm Stoff für ein Brautkleid. Feine weiße Baumwoll- und Leinenfäden, durch ein spezielles Mercerisier-Verfahren glänzend gemacht, werden zu einem festen, dünnen Stoff verwoben. Die Schattenbildung des Wellenmotivs im Muster sorgt für einen zusätzlichen Schimmer. „Die Braut macht sich daraus ein Tweed-Kleid, der Bräutigam passend dazu ein schickes Hemd“, sagt sie. Ab 125 Euro kostet der laufende Meter Stoff, vorausgesetzt, man bestellt rechtzeitig. Und es brauche etwas Zeit, herauszufinden, was zum Kunden passt, meint Nehm. Der Stoff sollte zur Lebenssituation und zum Anlass passen, davon erzählen können, findet sie. Soll es ein Tragetuch für ein Baby werden, ein Himmel für die Babywiege? Ein ganz besonderer Schal? Genau darum gehe es ihren Kunden: Dass sich jemand Zeit nehme für sie, auch mal zuhört und sich in sie reindenke. Irgendwann, so die Weberin, kommen dann die Ideen, wie der Stoff aussehen soll. Eine mittlere Auswahl an Stoffen hat sie im Atelier vorrätig, in den verschiedensten Mustern, Farben, Strukturen, manches sogar doppellagig. „Es ist hier wie bei Wünsch dir was!“, sagt Johanna Nehm und zeigt auf das Stoffregal. Tischwäsche und Kissen schneidet und näht sie passend. Auf einer Schneiderpuppe ist ein Poncho drapiert, wer ihn haben will, bekommt den Saum noch auf Länge genäht.

Das ist dann doch eine grausame Vorstellung, dass man diesen Stoff, in dem so viel Arbeit steckt, überhaupt zerschneiden könnte. Nach manchmal mehr als 20 Stunden Vorbereitung, dem Einrichten des Webstuhls mit den vielen Kettfäden entsprechend des gewünschten Musters, muss das Schiffchen mit der Spule im Inneren vier bis 14 Mal quer über den Webstuhl sausen, bis die Stoffbahn um einen Zentimeter gewachsenen ist. Für jeden sogenannten Schuss sind fünf Bewegungen notwendig. Johanna Nehm muss erst innehalten und langsam nachzählen, zu automatisiert ist der Ablauf. „Das ist irgendwann wie Autofahren“, sagt sie. Umtreten, laden, die Arbeit mit Armen und Füßen gleichzeitig, das Rutschen auf der glatten Holzbank – damit ähnelt das Weben dem Spiel eines Organisten.

Johanna Nehm kennt den Vergleich – und viele Weberinnen, die tatsächlich auch Orgel spielen. Sie gehöre zwar nicht dazu, sagt sie, aber als sinnlich empfinde sie das Weben durchaus. „Ich denke dabei viel nach, über Verbindungen, menschliche Bindungen und Lebensmuster allgemein“, sagt sie. „Und wenn mal ein Faden reißt, dann denke ich: Okay, das Leben geht schließlich auch nicht immer glatt.“ So ein Stoff, der soll zwar in erster Linie schön aussehen, aber da stecke eben viel mehr drin. „Ich finde, Weben ist eine hochphilosophische Angelegenheit.“

Handwebmeisterin Johanna-Elisabeth Nehm, Geschwister-Scholl-Straße 77, 0172-8323649, www.jen-webt.de

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