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Interview zum guten Leben: „Eine Kultur der Genügsamkeit“

IASS-Fellow Franziska Dübgen über die Idee des „Guten Lebens“, ihre Impulsfunktion für Europa, Wirtschaft ohne endloses Wachstum und die Rolle des sozialen Miteinanders. Am Potsdamer Nachhaltigkeitsinstitut (IASS) gab es dazu einen Workshop.

Frau Dübgen, höher, schneller, weiter – unsere Wirtschaftsordnung basiert auf stetem Wachstum. Was ist falsch daran?

Zum einen stehen wird heute vor dem Klimawandel als globaler Herausforderung. Das erfordert langfristige Konzepte jenseits von endlosem Wachstum. Zum anderen fördert unser Wirtschaftssystem immer wieder soziale Ungerechtigkeit. Wir können innerhalb unseres Entwicklungsmodells weder im Hinblick auf Fragen der ökologischen wie auch der sozialen Gerechtigkeit eine angemessene Antwort finden. Das geht vor allem zulasten der Länder des globalen Südens. Die aktuelle Finanzkrise führt uns vor Augen, dass wir nach neuen Modellen des gesellschaftlichen Zusammenlebens suchen müssen.

Franziska Dübgen (32) ist Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS). Die Philosophin forscht im IASS-Cluster „Globaler Gesellschaftsvertrag für Nachhaltigkeit“

Ein solches Modell haben Sie nun auf einem Workshop genauer betrachtet.

Die lateinamerikanische Idee des „Buen Vivir“, also des „Guten Lebens“, geht auf Wertvorstellungen und die Philosophie der indigenen, bisher unterdrückten Kulturen der Andenländer zurück. Es ist ein alternatives Entwicklungskonzept, das nach keinem besseren, sondern einem guten Leben strebt. Ziel ist vor allem die Harmonie der Menschen mit ihrer natürlichen Umwelt, gleichzeitig aber auch das gleichberechtigte und friedliche Miteinander unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen innerhalb eines Nationalstaates. Das Konzept wurde 2008 und 2009 im Rahmen der Verfassungsreformen in Ecuador und Bolivien als politisches Ziel dieser Länder festgeschrieben.

Kann das ein Vorbild für Europa sein?

Das Konzept stellt das westliche Denken grundlegend infrage. Das lässt sich natürlich nicht eins zu eins bei uns umsetzen.

Aber?

Die zentralen ethischen Fragen und Werte, die hier aufgeworfen werden, sind auch innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte bekannt. Die Idee, dass die Natur belebt, sogar göttlich ist und dass sich der Mensch nicht losgelöst von ihr betrachten lässt, finden wir unter anderem im Denken Spinozas. Dass wir stärker auf das soziale Miteinander und nicht allein auf die Anhäufung von materiellen Gegenständen achten sollten, lässt sich bei Herbert Marcuse oder Erich Fromm nachlesen. In diesem Sinne müssen wir einfach unsere eigenen kritischen Traditionen wiederentdecken.

Wieso ist die Idee in Lateinamerika so bedeutend?

Dort wird das Konzept als Abkehr von der Politik des Washington Consensus gesehen, der – propagiert von IWF und Weltbank – in den 1990er-Jahren infolge der Überschuldung dieser Länder durch radikale Strukturanpassungsmaßnahmen, Liberalisierung und Privatisierung viele lateinamerikanische Länder in den Ruin getrieben hat. Es geht also auch um den Versuch der Dekolonisierung des Entwicklungsdenkens des Westens. Die Vertreter einer Politik des „Guten Lebens“ wollen sich bewusst von den USA und Europa und deren neoliberalen Doktrinen abgrenzen, um eine eigenständige Idee des gesellschaftlichen Wandels zu entwickeln. Dieser Impuls ist allerdings auch für uns wichtig.

Warum?

Weil wir in den südlichen EU-Ländern nun die gleichen Fehler machen, wie die Industrienationen damals mit Lateinamerika. Es wird erneut soziale Ungleichheit geschaffen, die auf einem hohen Ressourcenverbrauch, vermehrtem Konsum und auf Wachstumsstreben basiert. Das, was woanders schon als Irrweg erkannt wurde, wird nun in Europa als Krisenpolitik umgesetzt. Den Andenländern gibt die Idee des „Buen Vivir“ auch international neues Selbstbewusstsein. Der bolivianische Präsident Evo Morales kritisiert zum Beispiel energisch den Emissionshandel, weil sich die Industrieländer damit freikaufen würden, um die Erde weiter auszubeuten. Kritisiert wird auch, dass die Verletzbarkeit, die durch den Klimawandel gerade im Süden entsteht, durch die anderen Länder nicht ausreichend abgefedert wird. Eine Herausforderung für Europa besteht deshalb vor allem auch darin, das „Gute Leben“ anderer Länder nicht zu behindern.

Ist „Buen Vivir“ eine neue Idee?

Nein, es handelt sich um die Wiederbelebung und Neuinterpretation einer alten Tradition aus den Anden. Die Idee des „Guten Lebens“ stellt, im Gegensatz zum Individualismus des Westens, das soziale Miteinander und ein Leben im Einklang mit der Natur in den Vordergrund. Die Idee wird von einzelnen Gruppen jedoch unterschiedlich interpretiert und instrumentalisiert. Die Regierungen Ecuadors und Boliviens legitimieren heute ihren Regierungsstil mit diesem Konzept und das verursacht natürlich interne Widerstände. Für Europa könnte das Konzept dagegen als Impuls gesehen werden, sich über die grundlegende ethische Dimension des gesellschaftlichen Miteinanders neu zu verständigen.

Mit welchem Ziel?

Anstelle von Wachstum, Konsum und Wettbewerb sollten Werte wie Genügsamkeit, die Gegenseitigkeit im sozialen Austausch und ein gutes Miteinander im Zentrum stehen.

Wirtschaft ist – zumindest bei uns – ohne Wachstum kaum denkbar.

Die Theoretiker des „Buen Vivir“ differenzieren zwischen Wachstum von endlichen und unendlichen Ressourcen. Als unendliche Ressourcen gelten beispielsweise Bildung oder das sogenannte Humankapital und die Gesundheitsvorsorge. Endlich hingegen sind die Rohstoffe der Erde. Das führt natürlich auch zu Widersprüchen. Denn einerseits versucht man über die Nutzung von Rohstoffen wie Erdgas, Erdöl und Lithium die Armut zu bekämpfen und in Bildung zu investieren, andererseits spricht man der Natur eigene Rechte zu, was die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen geradezu verbietet. Dieses Paradox wird damit gerechtfertigt, dass es ein Übergangsweg ist, um zu einer anderen, neuartigen Wirtschaftsform zu gelangen. Die soll dann langfristig stärker auf der verantwortungsbewussten Förderung unendlicher Ressourcen basieren wie auch auf nicht materiellen Werten des Zusammenlebens. Kurzfristig geht es um Armutsbekämpfung, langfristig ist aber eine Kultur der Genügsamkeit das Ziel.

Das „Gute Leben“ bedeutet also nicht, in den Wald zurückzukehren?

Auf keinen Fall. Das Konzept ist nicht industriefeindlich, man investiert stark in Bildung. In Ecuador wird beispielsweise eine ganze Bildungsstadt als Zentrum der Wissenschaft komplett neu aufgebaut. Neben der Bildung werden auch die Neuen Technologien gefördert. Die Investition in die Lithiumindustrie kann beispielsweise für Elektroautos wichtig werden.

Das Konzept ist auch eine Abkehr von der westlichen Idee des individuellen Glücks?

Ja, denn es geht nicht um das Glück des Einzelnen, den Wettbewerb, die liberale Gesellschaft und die im Christentum angelegte Unterwerfung der Natur. „Buen Vivir“ konzipiert den Menschen grundsätzlich anders: Sein Glück ist sowohl von anderen Menschen als auch seiner natürlichen Umwelt abhängig. Es bedarf eines gewissen Maßes an sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit, damit ein gutes Leben möglich wird.

Soziales Miteinander klingt schnell nach verordnetem Sozialismus.

Eben nicht. Das Konzept grenzt sich nicht nur vom imperial empfundenen westlichen Kapitalismus ab, sondern auch von der neuen Linken Lateinamerikas, die weiterhin auf Modernisierung setzt und das Entwicklungsparadigma des Sozialismus fortsetzt. Denn das basierte ebenfalls stark auf der Ausbeutung natürlicher Ressourcen und einem teilweise nahezu autoritären Regierungsstil. Insofern ist die Idee auch ein sozialkritischer Diskurs gegen den starken Staat des Sozialismus.

Wie sieht es mit der Zustimmung aus?

Die Umsetzung ist, wie gesagt, etwas widersprüchlich. Denn man braucht kurzfristig die natürlichen Ressourcen weiterhin zur Armutsbekämpfung. So wird die Kritik an der Förderung von Rohstoffen in Naturschutzgebieten oder an umstrittenen Infrastrukturprojekten eher von der intellektuellen Mittelschicht als von den ärmeren Schichten geäußert, die zum Teil von den neuen Wohlfahrtsprogrammen profitieren. Es gibt auch manifeste Interessenkonflikte zwischen einzelnen indigenen Gruppen, während die Regierung angibt, im Namen aller Indigenen zu sprechen. Manche Gruppen fühlen sich vereinnahmt oder nicht angemessen repräsentiert. Es gibt also zahlreiche Kontroversen um das Konzept und seine Umsetzung.

Das IASS ist ein Institut, das sich vornehmlich der Nachhaltigkeit verschrieben hat. Was erwarten Sie von dem Konzept?

Wir gehen unter anderem von der Kritik an einem recht monolithischen Wirtschaftsdenken aus, das aufgrund seiner Expertenkultur meint, eine einzige dominante liberale Wirtschaftsdoktrin könne Antworten auf globale ethische und politische Probleme geben. Ein Ziel unserer Forschungsgruppe „Cultures of Economics – Cultures of Sustainability“ am IASS ist es aufzuzeigen, dass es verschiedene Modelle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens gibt. Diese Diversität möchten wir offenlegen. Andererseits kehren wir die etablierten Sichtweisen um und versuchen, von dem Globalen Süden zu lernen. Dort werden nun die jahrhundertelang marginalisierten Gruppen der indigenen Bevölkerung zum Autor eines innovativen Gesellschaftskonzeptes. Wir sollten das Konzept aber nicht romantisieren, sondern vielmehr ernsthaft hinterfragen: Was wird damit gerechtfertigt? Ist das wirklich so anders als das, was wir machen? Und welche Impulse könnte man daraus ziehen?

Auch bei uns regt sich etwas.

In der Tat. Die Frage nach dem guten Leben wird bei uns derzeit ausgiebig diskutiert. Wir sehen auch einen starken Widerstand in Spanien und Griechenland gegenüber einer Wirtschaftspolitik, die zu hoher Arbeitslosigkeit, politischer Entmachtung, einem damit einhergehenden Demokratiedefizit und starken sozialen Spannungen zu führen scheint. Hier wird kritisiert, dass unser wirtschaftliches Paradigma kein langfristiges Denken, sondern nur kurzfristige Problemlösungen hervorbringt. Zudem finden wir auch in Europa eine ökologische Linke, die stärker Konsumgüter recyceln und die regionalen Produktionskreisläufe stärken möchte. In den Sozialwissenschaften haben wir die „Common Goods“, also die Nutzung gemeinschaftlicher Güter wiederentdeckt. Es ist die aktuelle Krise, die solche alternativen Ansätze hervorbringt. Die vermeintliche Alternativlosigkeit wird derzeit auch bei uns immer stärker infrage gestellt.

Das Gespräch führte Jan Kixmüller

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