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Homepage: Die Shoah als Lebensthema

Der Potsdamer Zeithistoriker René Schlott arbeitet an der ersten Biografie über den amerikanischen Holocaustforscher Raul Hilberg

Im Frühsommer 1997 kam es im Potsdamer Einstein Forum zu einer denkwürdigen Auftritt. Der international geachtete amerikanische Politologe Raul Hilberg war zu der internationale Konferenz zur Historiografie des Holocaust angereist. Hilberg galt damals als Pionier der transatlantischen Holocaustforschung. Im Zentrum stand eine Retrospektive auf Hannah Arendts kontrovers diskutierten Prozessbericht „Eichmann in Jerusalem“. Hilberg war selbst Teil der Kontroverse um Arendts Eichmann-Buch gewesen, hatte sie doch sein vielbeachtetes dreibändiges Opus magnum „The Destruction of the European Jews“ (1961) maßgeblich zur Rechtfertigung ihrer Kritik an der Rolle der Judenräte in den Ghettos der Nazis herangezogen (s. Kasten). Allerdings ohne dies ausreichend zu kennzeichnen, was ihr den Vorwurf einbrachte, diese Stellen schlichtweg abgeschrieben zu haben.

Hilbergs damaliger Auftritt war mit Spannung erwartet worden, war es, knapp 30 Jahre nach dem Streit, doch eine der ersten Gelegenheiten, bei der er sich selbst zu den Vorwürfen gegen Arendt äußern sollte. Was folgte, kam für viele Anwesende allerdings überraschend: Der Vortrag glich einem „Einpersonenstück Thomas-Bernhardschen Zuschnitts“, einer melancholischen Farce, wie Henning Ritter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtete. Der Holocaust-Experte polemisierte harsch gegen die „klischeehafte“ Darstellung Eichmanns, äußerte Unverständnis über die ungebrochene Bekanntheit von Arendts Buch und wurde mitunter auch persönlich: „Ich ringe seit 33 Jahren mit Hannah Arendt, ob sie nun lebt oder tot ist. Immer wieder, wie ein Gespenst kommt sie zurück.“

Angesprochen auf diese „Potsdamer Episode" von 1997 kann sich René Schlott ein Schmunzeln nicht verkneifen. „So wütend habe ich Hilberg noch nie erlebt. Das sieht ihm eigentlich gar nicht ähnlich“, sagt der junge Zeithistoriker, der Hilbergs Vortrag von einer Aufzeichnung kennt. 18 Jahre nach Hilbergs Wutanfall sitzt er in einem hellen Erdgeschossbüro im Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) am Neuen Markt, nur einen Steinwurf vom Einstein Forum entfernt. Die weißen Regale an den Wänden sind gefüllt mit Aktenordnern. Darin befindet sich der Nachlass des 2007 verstorbenen Raul Hilberg, den er aus dessen alter Wirkungsstätte, der Universität von Vermont in Burlington, nach Potsdam gebracht hat. Im Entstehen ist nun die weltweit erste monografische Darstellung über Leben, Werk und Wirkung Raul Hilbergs. Bereits für kommendes Jahr ist ein erster Band mit alten Hilberg-Aufsätzen aus dem Nachlass in Planung, den Schlott zusammen mit Hilbergs Lektor Walter Pehle herausgeben wird.

1939 als jüdischer Emigrant aus Wien in die USA geflohen, kehrte Raul Hilberg während des Zweiten Weltkriegs in den Reihen der US-Armee nach Europa zurück. Im Frühjahr 1945 war er in München auf die Privatbibliothek Hitlers gestoßen und wertete später für die Alliierten Behörden beschlagnahmtes NS-Aktenmaterial aus. Diese Arbeit legte den Grundstein für die Ausrichtung seiner späteren Forschertätigkeit. Er promovierte bei dem deutsch-jüdischen Politologen Franz Neumann mit einem Auszug aus „The Destruction of the European Jews“, das 1961 als eine der frühesten Gesamtdarstellungen des Holocaust erschien und diesen gleichzeitig als eigenständiges Forschungsfeld etablierte.

Hilbergs Thesen über die Fehlfunktionen der bürokratischen Gesellschaft als begünstigender Faktor des Genozids sind bis heute hochaktuell. Bis zuletzt blieb er davon überzeugt, dass sich ein solches Verbrechen auch heute noch wiederholen könne. Dennoch gab es in den 1960er-Jahren kaum Resonanz für seine Untersuchungen. Vor der Publikation seines Werkes hagelte es eine ganze Reihe von Absagen und vernichtende Gutachten durch Universitätsverlage. Eines davon kam pikanterweise von Hannah Arendt persönlich. Einen entsprechenden Brief fand Hilberg später in ihrem Nachlass, wo sich der Kreis schließt.

Historiker Schlott war trotzdem überrascht, als er bei seiner Materialsuche im Archiv des Holocaust Memorial Museum in Washington auf einen Tonbandmitschnitt der Potsdamer Tagung stieß, denn Hilbergs emotionaler Auftritt entsprach so gar nicht dem Bild, das sich ihm bis dahin geboten hatte. Auch Zeitgenossen beschreiben Hilberg eher als den notorischen Spaziergänger in Denkerpose – ein ausgeglichener Einzelgänger, der zur Ironisierung neigte, niemals aber zu irrationalen Wutausbrüchen.

Die Erforschung der Shoah blieb Raul Hilbergs Lebensthema. Nach dem Ende der DDR kam er auch nach Potsdam, um im ehemaligen Staatsarchiv zu forschen. Bis zu seiner Emeritierung 1991 veröffentlichte er weitere Bände, die den Grundstein für eine bürokratie- und täterzentrierte Geschichtsschreibung des Holocaust legten. Unvergessen bleibt sein Auftritt in Claude Lanzmanns Memorialfilm „Shoah“ von 1985. Jenen berühmten Satz, mit dem Hilberg seine Annäherungsweise an das Jahrhundertverbrechen beschrieb, möchte René Schlott seinem Buch als Leitsatz voranstellen: Hilberg hatte gesagt, dass er in seiner Arbeit nie mit den großen Fragen beginnt, weil er Sorge habe, darauf nur kleine Antworten geben zu können.

Jakob Mühle

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