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Brandenburg läuft: „Die Leute klatschen trotzdem“

Markus Bock nennt sich selbst „Depressionist“. Der 37-Jährige berichtet auf Vorträgen und in Lesungen aus eigener Erfahrung über psychische Probleme und welche Rolle Sport für ihn spielt. Bei der Teamstaffel in Brandenburg an der Havel läuft er in der AOK-Heldenstaffel.

Herr Bock, die AOK-Heldenstaffeln haben verschiedene thematische Bezüge: Mal sind es Menschen mit Behinderungen, die in den Staffeln mitlaufen. Es sind Menschen, die abnehmen wollen, die dabei sind. Oder Menschen, die gegen eine Krankheit kämpfen, wobei ihnen das Laufen hilft. Bei der Teamstaffel in Brandenburg an der Havel werden es „Helden der Arbeit“ sein, die im Fokus stehen. Sie wollen in der Heldenstaffel mitlaufen und begründen das mit der „Arbeit an sich selbst“. Wie ist das zu verstehen?

Ich lebe seit zirka 20 Jahren mit depressiven Episoden und teilweise auch Suizidgedanken. Ich bin mit einer nicht so glücklichen Kindheit aufgewachsen und habe dadurch Überlebensstrategien entwickelt, die nicht immer gut für mich waren, aber meinen Lebensweg geprägt haben. Seit fünf Jahren arbeite ich intensiv an einer Verbesserung meiner Situation, indem ich einen Blog schreibe, meine Therapiezeiten reflektiere, mein Verhalten überprüfe, andere Wege für mich finde, die Episoden für mich versuche aufzufangen und anders mit mir selbst umzugehen. Ich versuche das negative Selbstbild kleiner werden zu lassen und mich kennenzulernen. Therapie zu machen, war in meinem Leben das eine. Jetzt diese Sachen zu verstehen und anzuwenden, ist der nächste Schritt. Früher habe ich mich von den Menschen in meinem Umfeld abhängig gemacht. Heute weiß ich, dass es in meinem Leben nur um mich geht und ich für mich sorgen muss.

Ihr bisheriger beruflicher Werdegang ist markiert mit etlichen Stationen: Kaufmann im Einzelhandel, Bürokommunikation, Altenpfleger, ein Job in der Logistik. Das Richtige war nicht dabei – was hat das mit Ihnen gemacht?

Das Richtige war es in den Situationen schon immer, aber es war nie von Dauer. Depressive Episoden haben mich oft den Job gekostet und ich habe Stellen dann aus der Not heraus angenommen und probiert. Nebenbei habe ich als Hobby schon immer Grafik und Marketing gemacht, war da auch mal angestellt, aber es hat sich nicht in mein Leben integrieren lassen. Heute rückblickend waren die Wege richtig, weil ich so eine Menge Erfahrungen sammeln konnte, die mich zu einem „Allrounder“ machen. Mich haben mehr die Jobverluste durch „Nicht-handeln-können“ belastet, als das, was ich in der Zeit gemacht habe.

Wie haben sich Depressionen und Ängste bemerkbar gemacht?

Die haben sich meist gar nicht groß angekündigt. Wenn sie aber da waren, hat einfach nichts mehr funktioniert. Ich konnte nicht mehr aufstehen, keine Freunde anrufen, zum Fußball gehen, Nachrichten schreiben, duschen, umziehen, ernähren. In der Zeit habe ich jegliches Interesse an allen Sachen verloren. Ich habe alle Menschen im Umfeld angelogen, konnte mich weder krank noch arbeitslos melden, habe mich nicht um Post, Rechnungen, Miete und andere Sachen gekümmert. Dadurch resultierend sind auch die Existenzängste entstanden. Manchmal hat es gereicht, wenn irgendwer eine falsche Bemerkung gemacht hat, dann hat die Spirale im Kopf angefangen, alles niederzumachen. Permanente Abwertung, Selbstkritik, Schuldzuweisungen von mir an mich.

Sie sagen, dass Sie in der schwierigen Phase wieder zum Sport gefunden haben. Warum haben Sie sich auf die Suche gemacht? Wie sah die Suche aus?

Ich habe eigentlich gar nicht gesucht. Durch glückliche Umstände war ich mit Menschen in Kontakt, die eh schon Sport gemacht haben. Ich habe mich auch lange mit dem Thema beschäftigt, aber mehr als Nordic Walking kam dabei für mich nicht infrage. Doch, mal ein paar Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Mit Übergewicht und als konsequenter Antiläufer, der sich selbst beim Fußball als Torwart vor den Lauftrainings gedrückt hat, wollte ich auch gar nicht mehr machen. Es ist kein Spaß, sich ins Laufen zu bringen. Ich habe in der Zeit aber auch gelernt, mich nicht gegen alles zu sperren und es nicht auf die Zielzeiten ankommt. Also habe ich großmundig gesagt, dass ich im August 2017 bei einem Lauf in Berlin zumindest eine Runde über zwei Kilometer laufen werde – und wenn ich mich übergeben muss. Das war die Antwort auf alles. Ich habe mich informiert, wie ich mich ins Laufen bringen kann, habe mich probiert und so den Weg dahin gefunden.

Doch anfangs lief viel Scham mit. Sie berichten, dass Sie sich geschämt hätten, und „schräge Gedanken“ hatten, wenn Sie an Laufen dachten. Warum?

Der Kopf zeichnet automatisch ein Bild von einem Läufer. Schlank, drahtig, sportlich. Ich bin vielleicht sportlich, aber der Rest passt nicht. Dazu kommt mein eigenes Bild, das ich von mir habe. Vor allem aber wollte ich nicht, dass Menschen mich sehen, wie ich mich in eine enge Laufhose zwänge, die zwar funktional ist, aber absolut nicht gut aussieht. Es ist kein schönes Gefühl, eine XXL-Hose nicht anzubekommen. Oft war auch das Gefühl, dass ich es eh nicht schaffen werde. So ging es mir vergangenen August: Ich war 37, wog 117 Kilo und war noch nie richtig gelaufen. Ich habe mit Intervallen angefangen. 100 Meter laufen, 100 Meter gehen. Ich habe es steigern können, bin aber noch nicht so weit, dass ich fünf Kilometer am Stück schaffe.

Was hat Ihnen geholfen, Scham und negative Gedanken zu überwinden und loszulaufen?

Ich habe mich einfach bei einem Volkslauf angemeldet. Ich hatte vorher schon Erlebnisse, dass ich mich einer Situation stellen muss, um zu erfahren, ob es wirklich gut oder schlecht ist. Oder damit ich erfahre, ob ich es kann oder nicht. Mut ist der entscheidende Faktor. Und das bewusste Ausmalen des schlimmsten Falles. Das bereitet mich darauf vor, ich war also gedanklich schon mal in der Situation und kann versuchen, anders damit umzugehen. Geholfen hat mir der erste Volkslauf immens. Ich bin zwar im letzten Drittel angekommen, aber die Erfahrung, dass ich mit Intervallen auch ankomme und die Menschen am Rand trotzdem klatschen und mich keiner dafür verurteilt, dass ich mit Übergewicht und langsam unterwegs bin, die war einschneidend. Und: Wenn ich nicht der schnellste Läufer bin, dann sind im Ziel noch mehr Leute, die dann klatschen, die ersten Läufer sind ja schon da. Hinterher eine Urkunde oder kleine Medaille zu bekommen, garniert es dann noch. Ich habe gelernt, dass ich stolz darauf sein kann. Ich habe es gemacht – mit meinen Rahmenbedingungen. Das müssen andere dann erstmal nachmachen. Das gibt unweigerlich ein gutes Gefühl.

Was macht es mit Ihnen, wenn Sie heute laufen? Was fühlen Sie dabei, was geht Ihnen durch den Kopf?

Das sind zwei Seiten, die in mir brennen. Auf der einen Seite ist Laufen und auch Radfahren ein Ausgleich für den Alltag. Es ist Spaß und dann auch die Anstrengung. Ich darf mich körperlich fordern, ich kann mich auspowern und kann all den Druck aus den Gedanken in Bewegung ummünzen. Ich bin ehrgeizig geworden und mag es, nach dem Training wohlig entspannt runterzukommen. Ich laufe zwar noch immer Intervalle, weil ich das regelmäßige Training nicht einhalte, aber es ist eine Zeit, um loszulassen, die Gedanken auf andere Sachen zu richten. Ich reflektiere in der Zeit. Ich bin bei mir und nehme mich wahr. Auch wenn das Laufen heute noch anstrengend ist, ist es ein wunderbares Hilfsmittel. In guten Zeiten und in schwierigen Zeiten.

ZUR PERSON:
„verbockt“ ist der Titel des Blogs von Markus Bock. Er habe sich vor fünf Jahren bewusst für diesen Blogtitel entschieden, weil es ein ironisches Wortspiel mit seinem Namen und seiner Vergangenheit ist. „verbockt“ sei auch ein Synonym für den Zustand, den die Krankheit „Depression“ in seinen Kopf setzt. Der 37-Jährige aus Hildesheim hält seit anderthalb Jahren Vorträge und Lesungen zum Thema Depressionen und Ängste. In Berlin wird er am 3. August im Rahmen des Mut-Laufes für seelische Gesundheit auf dem Tempelhofer Feld eine Lesung halten. In seinem Blog spielt das Thema Laufen und Sport eine große Rolle – nicht nur beschönigend, sondern auch als immer wieder zu bewältigende Herausforderung. 

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