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Homepage: Das Rätsel der solaren Monster-Wirbel

Der Potsdamer Astrophysiker Günther Rüdiger hat eine Theorie zur Rotation der Sonne entwickelt, die nach über 40 Jahren, kurz vor seinem 70. Geburtstag, nun bewiesen wurde

Ausgerechnet an diesem Tag kommt er in die Redaktion. Die Agenturen berichten gerade von den Problemen, die es bei der Abkopplung der Philae-Sonde vom „Rosetta“-Satelliten gibt. Der Potsdamer Astrophysiker Professor Günther Rüdiger selbst hatte die Mittel für die Kometenjäger-Mission „Rosetta“ vor vielen Jahren mit beschlossen, als Mitglied der damaligen DARA-Gutachter-Kommission (Deutsche Agentur für Raumfahrtangelegenheiten).

Nun ist Rüdiger in einer anderen Sache gekommen. In eigener Sache sozusagen. Er hat ein gelbes Buch mitgebracht, aus dem Jahre 1989, erschienen in einem englischen Verlag, dessen Autor er ist. In dem Buch wird mit vielerlei Formeln beschrieben, warum die Rotation der Sonne an ihren Polen geringer ist als an ihrem Äquator. Ein Phänomen, das sich nur auf der Sonne findet. Auf der Erde ist eine Umdrehungszeit immer gleich lang, egal ob man im Norden Finnlands oder am Äquator steht – ein Tag dauert immer exakt 24 Stunden. Auf der Sonne hingegen ist das anders, am Pol dauern die Tage viel länger als am Äquator. Daher könnte man hier auch – abgesehen von der großen Hitze, die dort herrscht – keine Straßen bauen, die Scherung würde sie schnell zerreißen.

Warum das so ist, war lange unklar. Die sogenannte differenzielle Rotation der Sonne war bislang eines der großen Rätsel der Astrophysik. Günther Rüdiger hatte sich als junger Astrophysiker in der DDR Gedanken über diese Fragestellung gemacht – und eine Theorie entwickelt, die Theorie vom sogenannten Lambda-Effekt. Rüdiger war in den 1970er-Jahren an das damalige Institut für Sternphysik auf dem Telegrafenberg, später Zentralinstitut für Astrophysik und nach der Wende dann Astrophysikalisches Institut Potsdam (AIP), in Babelsberg gekommen.

Der Lambda-Effekt sei drastisch, sagt Rüdiger. Der Unterschied der Winkelgeschwindigkeiten von Pol und Äquator der Sonne mache 30 Prozent aus. Nach einer Überrundungszeit von etwa 110 Tagen hat der Sonnenäquator genau eine Umdrehung mehr geschafft als ihre Pole. Der Effekt hat enorme Konsequenzen für die Sonne, er erzeugt die Magnetfelder auf unserem Gestirn und produziert die Sonnenflecken, die wiederum Auswirkungen auf die Strahlung haben, die auf der Erde ankommt. Ähnliche dunkle Flecke findet man mit großen Teleskopen mittlerweile in allen Größen auch auf vielen Sternen.

Auf der Erde rotieren Körper nach kurzer Zeit immer starr, so wie unser Planet selbst auch. Wie das nun kommt, dass sich der Äquator auf der Sonne schneller dreht, dazu hat Rüdiger schon als Doktorand die Turbulenz unter der Sonnenoberfläche untersucht. Es zeigte sich, dass eine sich drehende starr rotierende Sonne ständig einen Drehimpuls zum Äquator transportieren würde. Dadurch ist die Rotation dort schneller. „Auf der Erde ist so etwas völlig unbekannt“, sagt der Wissenschaftler, denn hier gleicht sich die Drehimpuls immer aus. Er berechnete, dass auf der Sonne durch die schiere Größe von Turbulenzwirbeln neue Effekte entstehen. „Ein Wirbel, der zu schnell ist, wandert zum Äquator, die langsamen zu den Polen“, erklärt Rüdiger. Der Lambda-Effekt sei so universell, dass er auf alle Sternen ähnlich wirken und zu fast gleicher Überrundungsdauer führen müsste.

So weit die Theorie. Doch das hieß noch lange nicht, dass diese Annahme auch stimmt. Die Jahrzehnte gingen ins Land. Die Potsdamer Theorie wurde vielerorts beachtet, doch niemand konnte sie beweisen. 2010 dann lieferte der kanadische Satellit „CoRoT“ Daten von zwei Sternen, die tatsächlich den von der Sonne her bekannten Wert zeigten. Doch bewiesen war damit immer noch nichts. 2012 dann lieferte der Satellit „Kepler“ Daten von 100 000 Sternen. Forscher aus Göttingen werteten die Oberfläche von fast 15 000 Sternen aus und prüften anhand der Lichtkurven, ob dort die vorhergesagte differenzielle Rotation zu beobachten ist. Auch dies bestätigte sich. Damit war bewiesen, dass die Potsdamer Theorie nicht falsch ist. Doch der endgültige Beweis, der Beweis dafür, dass die Mikrophysik der Modelle auch stimmt, war auch das noch nicht.

Immerhin hieß es allgemein, dass die Potsdamer Theorie die Messungen am besten beschreibe. „Aber das ist ja noch kein Beweis, das sagt nur, dass man nicht voll danebenliegt“, sagt Rüdiger. Als er dann von den Beobachtungen des Sonnensatelliten Solar Dynamic Observatory (SDO) hörte, wurde er unruhig. „Ich ahnte schon, dass dies ein Treffer werden könnte“, erinnert er sich heute. Der geostationäre SDO-Satellit über New Mexico blickt in 36 000 Kilometern Höhe starr auf die Sonne. Auf Grundlage der SDO-Daten veröffentlichte der US-Forscher David Hathaway dann eine Untersuchung zu den Riesenzellen auf der Sonne.

Der Lambda-Effekt hängt ganz wesentlich davon ab, wie lange solche riesigen Sonnenstürme existieren. „Sie müssen einen Monat oder länger leben, dann tritt der Effekt ein.“ Die nur 1000 Kilometer großen granularen Wirbel verschwinden in der Regel nach rund acht Minuten. Die 10 000 Kilometer großen Supergranulen überdauern etwa einen Tag. Doch für den Lambda-Effekt braucht es langlebigere Monster-Zellen. Diese Giant Cells waren bislang immer nur Spekulation. „Das hat nie jemand beobachtet.“ Nun aber kamen die Ergebnisse von Hathaway: Er hatte sie anhand der SDO-Daten gefunden, die Megazellen, hunderttausend Kilometer große Monster, die monatelang am Leben waren. „Da wurde es dann noch einmal kritisch“, erinnert sich Rüdiger. Denn laut der Vorhersage mussten diese Monsterwirbel den Lambda-Effekt auslösen, also die Übertragung des Drehimpulses in Richtung Äquator. Doch war dem auch so? Mit großer Spannung sichtete der Astrophysiker die Publikation Hathaways: „Und der hatte, zum Glück auch ohne mich vorher zu fragen, genau diesen Effekt gemessen.“

Die Nachricht aus Amerika hat womöglich sein Lebenswerk vollendet – und das nur wenige Wochen vor seinem 70. Geburtstag. Den will der Wissenschaftler im Dezember in der Kapelle der Garnisonkirche feiern. Weil er ein Befürworter des Wiederaufbaus der Kirche ist – als Zeichen sozusagen. Rüdiger ist nämlich nicht nur an Sternen interessiert. In Potsdam ist er kein Unbekannter, fünf Jahre saß er für die SPD in der Stadtverordnetenversammlung und 15 Jahre im Kulturausschuss, damals, als es um den Theaterneubau ging, die Schiffbauergasse, um die Eingemeindungen oder um die Gründung der Kammerakademie. Im Wendejahr hatte er sich im Neuen Forum für eine Öffnung der DDR engagiert, nach dem Mauerfall war er ein Jahr lang nach Göttingen und in die USA gegangen. „Das war sehr wichtig für mich als Forscher, die DDR-Isolationspolitik hätte mich fast erledigt“, sagt er heute. Und ausgerechnet ein US-Amerikaner brachte nun den Beleg. Er habe immer an die Richtigkeit seiner Theorie geglaubt, sagt Rüdiger. „Das konnte nicht anders sein.“ Doch solange es keinen Beweis gab, blieb es eben auch nur eine Theorie.

Rüdiger ist sichtlich erleichtert, dass er den Beweis seiner Theorie noch erleben darf. „Es hätte auch gehen können wie mit Kepler“, sagt er. Dieser war nach seinem Tod so gut wie vergessen, seine Ellipsen-Theorie der Planetenbahnen wurde erst nach 60 Jahren von Newton wiederbelebt. Eigentlich war Rüdiger am Ende seiner wissenschaftlichen Laufbahn angekommen, offiziell ist er schon seit fünf Jahren im Ruhestand. Doch er hat mit anderen Themen weitergemacht, noch ein Buch geschrieben. „Und plötzlich purzeln die Belege gleich von mehreren Satelliten herunter.“

Letztlich schließt sich mit dem Beweis der Potsdamer Theorie nun auch ein Kreis. Das Phänomen wurde von Gustav Spörer in Potsdam am Ende des 19. Jahrhunderts erforscht. Die Erklärung aus der Turbulenztheorie heraus wurde in Potsdam 1971 von Rüdiger begonnen. Dann dauerte es fast 40 Jahre und einige Satellitenmissionen, bis nun endlich der Beleg für die Theorie vorliegt. In wenigen Tagen wird eine entsprechende Publikation in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift erscheinen.

Am Ende geht alles gut aus, zumindest fast alles: Rüdigers Theorie ist belegt. Und am Abend nach unserem Gespräch ist auch die Philae-Sonde auf dem Kometen Tschuri gelandet – wenn auch leider mit misslichem Abschluss. Auch Rüdiger hätte eine Bruchlandung erleben können, doch die Analyse des US-Forschers spricht eindeutig für seine Theorie. Letztlich bleibt nur noch eins offen: der Beweis dafür, dass der Lambda-Effekt auch auf anderen Sternen existiert. Doch das zu erkunden, dazu stehen die Mittel noch nicht zur Verfügung.

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