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Kultur: Das Leiden der Kinder

Eine Ausstellung im Großen Waisenhaus widmet sich der Geschichte der Heimerziehung

Die Melodie klingt wie eine Mahnung aus dem Off. Von ferne her ist sie sanft zu hören: „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab ...“. So läuten es die Glocken auf der Potsdamer Plantage tagsüber zu jeder halben Stunde. Und so weht der Klang hinüber auch in das Große Waisenhaus.

Dort erwartet die Besucher derzeit ein Kontrastprogramm zu Höltys Anweisung für ein gottgefälliges Leben: Im Treppenhaus unter der über den Dächern thronenden Caritas ist jetzt eine Ausstellung zu sehen, in der die historische Entwicklung der Heimerziehung beleuchtet wird. „Die Geschichte der Kindheit im Heim“, wie die Ausstellungsmacher die Schau betitelt haben, ist zugleich auch eine Geschichte von Gewalt und Unterdrückung, geschundenen Kinderseelen und flächendeckendem Versagen. Viele Heime waren Verwahranstalten, in denen militärischer Drill herrschte, sexuelle Übergriffe auf der Tagesordnung standen und der Kinderwille gebrochen werden sollte.

Die Potsdamer Ausstellung zeigt vor allem die Entwicklung der Heime von der Kaiserzeit bis in die jüngere Vergangenheit. Einige Ausstellungstafeln widmen sich jedoch auch der Zeit davor. So erfährt man über das Potsdamer Militärwaisenhaus – das früher an jenem Ort angesiedelt war, an dem jetzt die Ausstellung zu sehen ist – , dass dort im 18. Jahrhundert die Mädchen unter schlechten Bedingungen für eine Kanten- und Klöppelfabrik arbeiten mussten, was schon damals Kritik hervorrief. Allgemein waren in den Heimen im 18. Jahrhundert die hygienischen Verhältnisse und die Gesundheitsfürsorge so schlecht, dass es in fast allen Waisenhäusern zu einer überdurchschnittlich hohen Sterblichkeit kam.

Im deutschen Kaiserreich stand bei der Heimerziehung im Wesentlichen die „Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung“ der Kinder im Vordergrund. Es gab zwar Reformansätze, doch „die angestrebte Pädagogisierung des Anstaltsalltags war gescheitert“, schreiben die Ausstellungsmacher. Aber völlig still blieb es nicht um diese Heime. Journalisten und sozialdemokratische Parlamentarier brachten einzelne Missstände an die Öffentlichkeit. In mehreren Gerichtsverfahren traten Verbrechen an den Schutzbefohlenen zutage. So hatte es beispielsweise vor dem Ersten Weltkrieg im heutigen Schleswig-Holstein in einem Mädchenerziehungsheim fünf Tote infolge von Misshandlungen gegeben.

Auch in der Weimarer Zeit hörte das Leiden der Kinder vielerorts nicht auf – trotz reformpädagogischer Ansätze. Auch das Potsdamsche Große Waisenhaus, wie das Militärwaisenhaus mittlerweile hieß, sei von diesen Reformideen beeinflusst worden, so die Ausstellungsmacher. Hier habe nicht mehr die klassische repressive Struktur geherrscht, sagt Sabine Hering, emeritierte Professorin der Sozialpädagogik an der Universität Siegen. Die heutige Potsdamerin hatte die Idee für diese Ausstellung. Das Potsdamer Waisenhaus habe „nicht zu diesen berühmten Fürsorgehöllen der Weimarer Republik“ gehört, sagt Hering. Und doch wirken die damaligen Verhältnisse, auch in Potsdam, auf heutige Menschen recht befremdlich. So ist in der Ausstellung ein Foto von 1928 zu sehen, das Jungen des Potsdamschen Großen Waisenhauses beim Schuhappell zeigt: In einheitlicher Kleidung sind sie angetreten, in den Händen hält jeder ein Paar Schuhe, die Sohlen zur Begutachtung nach oben gekehrt. Einer der Jungen streckt einem Bediensteten die Sohle seines Schuhes, den er am rechten Fuß trägt, zur Überprüfung hin. Der Bedienstete scheint dabei etwas auf einem Papier zu notieren.

In der Zeit des Nationalsozialismus machte die Tötungsmaschinerie im Dienste des Rassenwahns keinen Halt vor den Heimen im Reich. Von nun an wurde zwischen „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben unterschieden. Viele Heimbewohner wurden getötet oder sterilisiert.

Wie stark Zöglinge in den Anstalten jedoch auch nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in Ost als auch in West litten, haben die politischen Diskussionen der jüngeren Vergangenheit gezeigt. Einzelne Zitate von ehemaligen Heimbewohnern, die in der Ausstellung zu lesen sind, verdeutlichen das Grauen. Leider vermisst man in der Schau bisweilen eine zeitliche und örtliche Einordnung jener Zitate.

Die Heimkinder wussten häufig nicht einmal, warum sie in einer Anstalt gelandet waren. Misshandlungen und Erniedrigungen hätten in den westdeutschen Heimen bis in die 1970er Jahre hinein zum Alltag gehört, heißt es auf einer Ausstellungstafel. Auch die in den Anstalten vielfach praktizierte sexuelle Gewalt sei schon damals in „Fachkreisen“ bekannt gewesen, „aber es wurde nicht darüber geredet und geschrieben“.

Geradezu unmenschlich ging es in der DDR im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau zu. Hier sollten die eingelieferten Jugendlichen mit brachialen Methoden umerzogen werden. In der Ausstellung kommen ehemalige Insassen in einem Video zu Wort. Erschreckende Zeitzeugenberichte sind zu lesen.

„Und weiche keinen Finger breit von Gottes Wegen ab“, heißt es im Text von „Üb immer Treu und Redlichkeit“. Wie fromm der Wunsch! Und wie bitter die Realität in jenen „Fürsorgehöllen“!

„Die Geschichte der Kindheit im Heim“ ist bis zum 31. März 2018 montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr im Großen Waisenhaus zu sehen. Der Eintritt ist frei

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