zum Hauptinhalt

Landeshauptstadt: „Da ist sie – die Revolution“

Wie in anderen Großstädten gingen auch die Potsdamer am 4. November gegen die SED auf die Straße. Tausende kamen auf den heutigen Luisenplatz. Eine Erinnerung

Teilnehmer an historischen Ereignissen taugen nicht so recht als Chronisten und Geschichtsdeuter. Das gilt auch für den Herbst 1989. Jeder hat eigene Erlebnisse und Erinnerungen. Wer überblickt schon das Ganze, war überall mit dabei, notierte akribisch das Gesehene, Gehörte, Empfundene? Die Revolution, die wir damals erlebten, und dazu noch ohne Blutvergießen, riss alle mit sich fort. Keiner von uns wusste, wohin die Reise gehen würde, auch nicht am 4. November 1989. Nicht einmal fünf Tage weit konnten wir voraussehen. Niemand konnte es.

Die unmittelbare Vorgeschichte des 4. November 1989 in Potsdam begann am 19. Oktober 1989 im Pfarrhaus der Babelsberger Friedrichskirche. Dort trafen sich einige der mutigen Initiatoren der Demo vom 7. Oktober, zu denen die beiden Pfarrer Hans Schalinski und Martin Kwaschik, Udo Kreschel sowie Jeanne und Olaf Grabner gehörten, mit Vertretern des Neuen Forums wie Rudolf Tschäpe und Reinhard Meinel, Annette Flade oder Hans-Georg Baaske.

Seit dem 7. Oktober war viel geschehen: Krenz hatte Honecker abgelöst, auch Günter Mittag, Margot Honecker, Harry Tisch und andere SED-Funktionäre waren geopfert worden. Zeitungen und die Aktuelle Kamera quollen über vor „Offenheit“. Von Egon Krenz über die Bezirkssekretäre bis zum letzten Funktionär der Stadtleitungen der SED hasteten die Amtsträger mit hängender Zunge und aufgesperrten Ohren zu den Werktätigen, um mit ihnen in Dialog zu treten. Sie stießen allerorten auf Misstrauen und Gelächter. Den Forderungen nach Bestrafung der Schuldigen an den Ausschreitungen gegen die Demonstranten am 7. Oktober und nach Zulassung oppositioneller Gruppen begegneten sie mit dem ehernen Führungsanspruch der SED. Nach wie vor verließen Tausende die DDR über die Botschaften in Warschau, Prag und über Ungarn, zogen Demonstranten durch die Straßen. An die von Egon Krenz verkündete Wende glaubte niemand. Das versprochene liberalere Reisegesetz und die Amnestie für Republikflüchtlinge und Demonstranten konnten die Menschen nicht umstimmen oder gar überzeugen. Wie sollte es weitergehen?

Diese Frage stand auch an jenem 19. Oktober im Babelsberger Pfarrhaus zur Debatte. Würde das Regime, wenn es sich nicht anders mehr zu helfen wusste, letztlich doch mit Waffengewalt den gordischen Knoten lösen? In der Nacht zum 18. Oktober bebte in San Francisco die Erde, es gab 300 Tote, am 19. Oktober erschütterte ein Erdbeben Nordchina, der Ätna spuckte glühende Lava. Auch die Natur schien in Aufruhr. Der Ausgang dieses Herbstes war nicht abzusehen.

In der teilweise erregten Diskussion waren wir uns einig, dass der gewaltlose Widerstand weitergehen müsse. Noch saß uns der 7. Oktober mit dem brutalen Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten in Knochen und Nerven. Damals hatten Kirche und Neues Forum von der Demo abgeraten. Es fällt nicht leicht, unter den Bedingungen einer Diktatur die Verantwortung für eine illegale Demonstration und ihre Folgen auf sich zu nehmen. Doch stärker als alle Bedenken war nun allseits das Drängen nach gesellschaftlicher Veränderung. Aus Angst wurde Mut – wie überall im Land. Ergebnis der Beratung: Pfarrer Kwaschik und Reinhard Meinel sollten am nächsten Tag bei der Polizei eine Demonstration für Gewaltlosigkeit und Menschenrechte für den 4. November anmelden.

Die Beamten reagierten freundlich und ratlos, ein Vorgesetzter nahm den Antrag schließlich an und versprach einen Bescheid für den 25. Oktober. Der Antrag wurde nicht genehmigt, weil das Neue Forum als „staatsfeindliche Plattform“ galt. So sprang die kirchliche Superintendentur als Veranstalter ein. Zugelassen wurde eine Demonstration, nicht aber eine Kundgebung.

Am 4. November 1989 begann um 10.30 Uhr die Großdemo auf dem Berliner Alexanderplatz, die in die Geschichtsbücher eingegangen ist wie der 9. Oktober in Leipzig. Doch es fanden an diesem Tag überall Kundgebungen statt, unter anderem in Magdeburg, Schwerin, Suhl, Rostock, Dresden und eben auch in Potsdam, hier um 14 Uhr. Da konnte man im Westfernsehen vorher noch die Reden auf dem Alex verfolgen.

Was für ein Unterschied zum 7. Oktober! Wie immer bei den Demonstrationen des Herbstes 89 streitet man über die Zahl der Teilnehmer; jedenfalls war der Platz der Nationen, der heutige Luisenplatz, voller Menschen, und von allen Seiten kamen immer mehr hinzu. Sie trugen selbst gebastelte Plakate mit Inschriften wie „Mauerland in Bauernhand“, „Die Karre aus dem Dreck ziehn nicht die alten Pferde“, „Freie Wahlen, Wahre Zahlen“, „Stasi raus aus den Betrieben“, „Gebt mir ein Visa zu meiner Oma Lisa“. Die Plakate sollten sieben Tage später auf der Freundschaftsinsel ausgestellt werden.

Auf dem Platz der Nationen von Polizei keine Spur. In Ermangelung einer Rednertribüne hatte Rosemarie Stappenbeck ihren Balkon über der heutigen Luisen-Apotheke zur Verfügung gestellt. Dort verwies ein Transparent auf die Artikel 27 bis 29 der DDR-Verfassung zur Rede-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Die Organisatoren hatten beschlossen, dass nicht wie in Berlin Leute mit klingenden Namen reden sollten, sondern Vertreter der Bürgerbewegung, die von Anfang an dabei gewesen waren. Und so sprachen Annette Flade, Olaf Grabner, Reinhard Meinel und Hans Schalinski frisch und frei zu den Menschen auf dem Platz. Die Zeit der Politfloskeln war vorbei und die Zeit der politischen Korrektheit noch nicht gekommen. Immer wieder rauschte Beifall auf bei den Forderungen nach Zulassung des Neuen Forums, nach freien Wahlen, freier Presse, Freiheit des Andersdenkenden.

Dann setzte sich der Zug der Zehntausend in Bewegung – über Schopenhauerstraße, Breite Straße bis zur Hauptpost. Und das im roten Bollwerk Potsdam mit seinen vielen Stasi-Einrichtungen, Kasernen, SED-Funktionären! Diesmal beschränkte sich die Polizei weitgehend auf die Verkehrsregelung. Der Schriftsteller Hartmut Mechtel sprach zum Abschluss, und Pfarrer Martin Kwaschik dankte den Teilnehmern für ihre Disziplin.

In meinem Tagebuch notierte ich am Abend des 4. November: „Da ist sie – die Revolution, umfassend im Anspruch, visionär!“ Was jahre-, ja jahrzehntelang kleine Gruppen und mutige Einzelkämpfer angestrebt und dafür Verfolgung auf sich genommen hatten: Freiheit und politische Selbstbestimmung, ließ sich nicht länger unterdrücken. Die kritische Masse war erreicht und überschritten. Eine revolutionäre Situation bestünde dann, lautete ein Ausspruch Lenins, wenn die Herrschenden nicht mehr so regieren können und die Beherrschten nicht mehr so leben wollen wie bisher. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn die oben nicht mehr können und die unten nicht mehr wollen. Die Erkenntnis war keine Leninsche Erfindung. Sie trifft für alle Zeiten zu.

Die Autorin ist Schriftstellerin und lebt in Potsdam. Sie wurde 1942 im heute tschechischen Tetschen-Bodenbach geboren und studierte in Berlin Kulturwissenschaft und Indonesienkunde. Grabner veröffentlichte unter anderem Biografien über Mahatma Gandhi und die schwedische Königin Christina. In den 1990er-Jahren leitete sie das von ihr mit begründete Brandenburgische Literaturbüro.

Sigrid Grabner

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false