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PNN-Serie: Hinter den Kulissen - Die Musik: Bis zur Seelenverschmelzung

Wenn auf der Bühne musiziert werden soll, ist Christian Deichstetter ein gefragter Mann.

Das Arbeitszimmer von Christian Deich- stetter ist winzig, ein Flügel nimmt den halben Raum ein. Aber es liegt strategisch am richtigen Ort: weit weg vom Zuschauerraum. Wenn hier geprobt wird, darf man das unten im Saal nicht hören. Die Kostümkollegin direkt nebenan stört das jedoch nicht. Bis zu acht Personen singen hier manchmal gleichzeitig. Meistens aber kommen sie einzeln zu dem Korrepetitor.

Christian Deichstetter, studierter Kirchenmusiker, Dirigent und Multiinstrumentalist, ist am Hans Otto Theater für die musikalische Einstudierung und Leitung zuständig, vom Einsingen bis zur Begleitung an Piano oder Keyboard, manchmal sogar als Bühnenrolle. Deichstetter hat unter anderem ein Bandmitglied in „Cabaret“ gespielt, im „Eisvogel“ den Pianisten. Spielen gehört nicht zu seinen ursprünglichen Aufgaben, aber er macht es gern. Außerdem komponiert und arrangiert er, schreibt die Stücke passgenau für das Ensemble, die Instrumentalisten und die Sänger. Die ja meistens gar keine sind, sondern in erster Linie Schauspieler. Das sei schon etwas Besonderes, sagt Deichstetter, dass das Potsdamer Ensemble so musikalisch ist. Dass am Theater noch live gesungen wird, in Musicals und Liederabenden wie dem zu Bertolt Brecht, das gibt es nicht mehr überall.

Es liegt zum großen Teil auch an ihm. Seit 1975 ist Deichstetter am Potsdamer Theater, ist von der Zimmerstraße in die Blechbüchse am Alten Markt und dann in die Schiffbauergasse gezogen. Und hat trotz der Abwicklung des hauseigenen Opernchors, den es noch bis 1996 gab, immer darauf gedrungen, dass dennoch weiterhin live Musik gemacht wurde. Gesungen vor allem. Zum Ende dieser Spielzeit allerdings geht Deichstetter in den Ruhestand, 64 Jahre alt ist er jetzt. Bevor er geht, würde er gern noch einen Nachfolger einarbeiten. Er hat der TheaterChefetage nahe gelegt, die Stelle bald auszuschreiben. Und ist zuversichtlich, dass sich fähige Leute bewerben werden. Die Messlatte hängt allerdings hoch: Deich- stetter hat sich am Theater und in ganz Potsdam einen Ruf erarbeitet. Singen kann bei ihm jeder lernen. Wie geht das, was macht er anders, dass auch Kollegen, die sich das nie zutrauten, plötzlich auf der Bühne singen?

Deichstetter formt seine Hände mit nach oben geöffneten Handflächen zu einer Schale und streckt die Arme leicht nach vorn. Und sagt: „Wissen Sie, ich halte meine Hände auf und da setzt er sich rein. Und dort kann er das Singen lernen.“ Das funktioniert natürlich nur, wenn man sich gegenseitig respektiert und schätzt. Achtet. Vertraut. Bis zur Seelenverschmelzung, so nennt es Deichstetter. Nie würde er auf die Idee kommen, einen Sänger auf ein bestimmtes Lied hin zu trainieren. Es ist umgekehrt. Der Mensch mit seinen Voraussetzungen gibt vor, was geht und was nicht. „Ich kenne hier von jedem im Ensemble den Tonumfang“, sagt er. Die Tonhöhen und Tiefen, in denen er oder sie sich wohl fühlt. Passend dazu arrangiert oder komponiert er die Musik. Er arbeitet gern mit Gesangs-Laien. Katharina Thalbach hätte nie gedacht, dass sie mal auf der Bühne singen würde. „Sie hat eine Basslage, aber in den eineinhalb Oktaven geht das wunderbar“, sagt der Musiker. Auch Winfried Glatzeder erlebte in Potsdam mit Deichstetter sein Gesangs-Debüt. Später schickte er eine Karte: „Danke, dass du mir geholfen hast, die richtigen Töne zu finden.“

Das Richtige finden ist auch Christian Deichstetter selbst gelungen. Geboren wird er in Zwickau, in der Robert-Schuman-Stadt, sagt er. Die Mutter ist freiberufliche Sängerin, das prägt ihn, und mit elf Jahren steht Christian zusammen mit Kumpels, die auch singen können, auf der Theaterbühne, im Soldatenchor von „Carmen“. Das gefällt ihm. Er will Kapellmeister werden, macht aber zunächst die C- und B-Kantorausbildung und studiert dann in Leipzig Dirigieren und Klavier. Dort lernt er seine spätere Frau kennen.

Als Rosemarie Deichstetter in Potsdam als Sopranistin engagiert wird, bewirbt sich auch Christian Deichstetter am Potsdamer Theater, zunächst für ein Praktikum, wird aber ein Jahr später fest übernommen. Da ist er streng genommen noch nicht fertig mit dem Studium, aber Intendant Gero Hammer und sein Professor in Leipzig handeln das aus. Nach dem letzten Prüfungsvorspiel gratuliert Hammer zum am selben Tag geborenen Sohn – und legt ihm den Vertrag vor. „Es hat immer irgendwie alles geklappt in meinem Leben“, sagt Christian Deichstetter. Sogar um die für Studienanwärter in der DDR obligatorischen drei Jahre Armee kommt er herum, er gehört zu den Jahrgängen, die nur als Reservisten dienen müssen. Was für ein Glück – drei Jahre ohne Musik, das wäre furchtbar gewesen für ihn.

So aber kann Deichstetter in Potsdam am Hans Otto Theater durchstarten. Nebenbei arbeitet er als Kantor, spielt in den meisten Kirchen der Stadt zu Gottesdiensten die Orgel. Er ist Mitglied in diversen freien Ensembles, auch im Sinfonieorchester Collegium Musicum. Von 1990 bis 1998 war er außerdem Stadtverordneter.

Termine hat Christian Deichstetter manchmal schon bis Jahresende geplant und viele sogar im Kopf. Katastrophen passieren natürlich trotzdem. Einmal wurde er von drei Kollegen aus der Stadtverordnetenversammlung raus geholt. Dirigent Ronald Reuter hatte einen Unfall gehabt und Deichstetter musste bei der „Keuschen Susanne“ übernehmen. 15 Minuten Vorbereitung bekam er. Ein andermal sang er selbst, versteckt im Orchestergraben im Schlosstheater, weil der Tenor ausgefallen war. Oben auf der Bühne spielte der Oberspielleiter des Musiktheaters, Peter Brähmig, die Rolle. „Wir waren sogar lippensynchron,“ schwärmt Deichstetter.

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