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Kultur: Zwischen allen Stühlen

Theaterjugendclub brachte „Amoklauf mein Kinderspiel“ in der Reithalle A zur Premiere

Vor sechs Jahren, am 26. April 2002 erschütterte der Amoklauf von Robert Steinhäuser im Erfurter Gutenberg-Gymnasium Deutschland. Das Massaker, bei dem 17 Menschen starben, beleuchtete schlaglichtartig und in extremer Weise, wie sich ein junger Mensch hier und heute fühlen kann. Unzählige Analysen und darauffolgende Interpretationsversuche legten gravierende Leerstellen sowohl im gesellschaftlichen als auch im privaten Umfeld des damals 19-jährigen Täters frei und konnten dennoch keine wirkliche Erklärung für die unfassbare Tat finden.

Vor zwei Jahren schrieb der fast gleichaltrige Autor Thomas Freyer (Jahrgang 1981) ein Theaterstück, das den Amoklauf von Erfurt wie unter einem Brennglas beleuchtet und die Motive von Jugendlichen, ihre Gewaltphantasien auszuleben, „nachvollziehbar“ zu machen versucht. Freyers Diagnose ist erschütternd: Die Eltern der ersten Nachwende-Generation haben anscheinend jegliche Orientierung verloren. Äußerlich im Westen angekommen, sind sie in ihren inneren Werten und Prägungen nachhaltig dem alten System verhaftet. Mit dem täglichen Überlebenskampf oder der Jagd nach dem großen Geld beschäftigt, bleibt ihnen kaum Zeit für eigene Reflektionen und Loslassen des Überlebten. Resignation, Opferhaltung und Demutsgebärden lassen sie für ihre Kinder kaum als Vorbildfiguren taugen.

Die permanenten Missverständnisse und hilflosen Sprachlosigkeiten, die daraus erwachsen, wurden von den Mitgliedern des Theaterjugendclubs des Hans Otto Theaters Lisa Hannemann, Henrike Janssen, Anna Kappler, Daniela Restorff, Julia Schütze und Enno Hartmann am Samstagabend vor allem im ersten Teil der Inszenierung von Sebastian Stolz eindrücklich in Szene gesetzt. Wie im falschen Film glaubte man sich bei Szenen wie „Fahrt in den Westen“, „Kleingartenanlage Goldene Aue“ oder dem täglichen Mittagessensritual – Erbrechen inklusive. Der Enge und Spießigkeit im Elternhaus steht die Schule mit ihrem permanenten Zeit- und Leistungsdruck gegenüber, den Eltern, die selbst zu kurz gekommen sind, noch forcieren.

Das gesamte junge Ensemble findet für diesen Zustand zwischen allen Stühlen einprägsame Bilder. Grausam großartig die Szene mit der Ethiklehrerin Frau Wiese, deren Vergangenheit als „IM Gänseblümchen“ ihr die Schüler verächtlich-genussvoll um die Ohren hauen.

Doch wie sollen Jugendliche, denen starke Leitfiguren fehlen, ihren Weg ins Leben finden? Wie sollen sie ihrer Angst und ihrer Wut Luft machen, wenn ihnen zudem noch „Dankbarkeit“ und „Stillschweigen“ – wie in der Inszenierung mit fast 10-minütigem pastoralen Sprechgesang dargestellt – verordnet wird. Diese können sich dann nur noch nach innen fressen oder „bestenfalls“ in selbstzerstörerischem Verhalten wie Ritzen oder Bulimie bei Mädchen äußern. Jungen schmieren eher Hakenkreuze oder lassen ihre Aggressionen in virtuellen Gewaltszenarien raus. Und wenn auch das nicht mehr reicht, sich am wirklichen Leben zu reiben, braucht es wenig Anlässe, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.

Auch das zeigt die an mehreren Stellen echt unter die Haut gehende Inszenierung. Allerdings hätten die bürgerkriegsähnlichen Zustände, zu denen sich der Amoklauf dann auswächst, auch mit ein bisschen weniger Pulverdampf und Schlachtenlärm ihre Wirkung nicht verfehlt. Langanhaltender Beifall für eine beeindruckende Ensembleleistung.Astrid Priebs-Tröger

Nächste Vorstellungen am 1. November und 1. Dezember jeweils 19.30 Uhr in der Reithalle A.

Astrid Priebs-TrögerD

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