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Sportliche Töne. Stephan von Bothmer beim Orgelfußballkonzert in Berlin-Kreuzberg 2014.

© Maria Klenner

ZUR PERSON: „Mit der richtigen Musik sieht man einfach mehr“

Stephan Graf von Bothmer holt am Samstag das DFB-Pokalfinale in den Nikolaisaal – indem er es live vertont. Im Interview spricht der Stummfilmmusiker über Liebesszenen im Fußball, die Vorhersehbarkeit von Toren und die Bachsche Komponente dieses Sports

Herr Graf von Bothmer, wie klingt ein Tor auf dem Klavier?

Man hört Jubel-Akkorde. Als ich mit den Fußballkonzerten vor zehn Jahren anfing, dachte ich auch, dass ich für verschiedene Spielsituationen verschiedene Motive verwende. Aber das ist Unsinn. Erstens wechseln die Spielsituationen zu schnell. Das heißt, man würde gar keine Musik machen, sondern nur noch Jingles abspielen. Es müssen ja erstmal zwei Takte sein, damit es überhaupt Musik mit einem Rhythmus wird. Das macht also musikalisch keinen Sinn. Zweitens macht es aber auch inhaltlich keinen Sinn: Dass da jetzt ein Tor oder ein Foul stattfindet, das sieht sowieso jeder. Die Musik muss nicht wie eine Trompete das in die Welt tragen. Aber jedes Tor, Foul oder Abseits ist anders und muss auch anders klingen.

Wie machen Sie das also bei Ihren Fußballkonzerten? Sie kennen das Spiel ja nicht im Voraus.

Das fällt in den Bereich der Mystik.

Wie bitte?

Es ist tatsächlich so, dass ich das nicht genau sagen kann. Es gab manchmal die Situation, dass ich einen Stummfilm, den ich noch nicht kannte, spontan vertonen musste. Zu meiner Überraschung ist mir das relativ gut gelungen. Das liegt daran, dass ich zunächst das Bewusstsein ausschalte und dem Unterbewusstsein und der Intuition viel Raum lasse. Das Bewusstsein formt daraus dann Musik mit einer harmonischen Richtung und was dazu gehört. Ich habe über 900 Filme vertont. Irgendwann hat man ein Gefühl für die Dramaturgie der Regisseure. Wenn man sich wirklich darauf einlässt, kann man erspüren, was als Nächstes kommt. Das Seltsame ist, dass das beim Fußballspiel auch geht.

Nun gibt es aber beim Fußballspiel keinen Regisseur und kein Drehbuch.

Genau! Es funktioniert aber trotzdem. Ich habe eine Trickkiste voll Techniken entwickelt, die ich anwende. Also wenn es in Richtung Tor geht, kann ich die Musik immer weiter steigern und dann in die Enttäuschung spielen, falls der Ball vorbei geht. Fußball ist die ganze Welt großer Emotionen. Aber alles findet auf einem Platz mit 22 Figuren und ein paar Schiedsrichtern statt. Ohne echten Szenenwechsel. Das heißt, diese ganze emotionale Welt ist auf einem miniaturisierten Raum komprimiert. Manche halten Bach für genauso dramatisch wie jede Sinfonie. Dabei sind es ja nur zwei oder drei Stimmen ohne große Dynamik. Trotzdem schafft es Bach, alle Emotionen da hineinzustecken.

Ein Fußballspiel ist wie Bach?

Schon. Ich mache keine Bachsche Musik, ich meine dieses Phänomen. Beim Fußball haben wir natürlich Verfolgungsszenen, Liebesszenen

... Liebesszenen?

Die Liebe zum Fußball zumindest schon mal. Auch die Liebe zu dieser Situation. Es gibt Freundschaftsbekundungen, auch zur gegnerischen Mannschaft hinüber. Es gibt alles Mögliche. Und trotzdem findet das ja alles nur im ganz Kleinen statt. Ich habe keine Szenenwechsel zwischen der Verfolgungsjagd auf der Straße und der Liebesszene im Bad der Königin. Und das muss ich mit der Musik hinkriegen. Deshalb darf ich mich auch nicht wiederholen, sonst fällt es in sich zusammen und wird so klein, ich sag mal, wie es auch ist. Ein Spiel wird ja deshalb emotional, weil wir unsere Emotionen hineinprojizieren. Und das mache ich eben auch.

Ist das Publikum dabei eigentlich so still wie bei einem Klassikkonzert?

Nein, es ist normalerweise viel lauter als beim Public Viewing mit Ton, mit vollem Stadionlärm.

Ihre Musik verstärkt also das Spiel?

Bestimmt. Ich glaube, dass ich mit der Musik den Blick auf das Spiel sehr fokussiere. Die Zuschauer gucken genauer hin. Am Ende sagt das Publikum oft zu mir: „Was für ein Glück, dass es bei dieser Übertragung so viel Close-ups und Zeitlupen gab.“ Aber natürlich stimmt das gar nicht, es kommt einem nur so vor. Das geht mit filmmusikalischen Tricks: Wenn ich das Gehirn mit extrem vielen Noten bombardiere, dann sieht man in Zeitlupe. Das weiß jeder Filmmusiker. Es kommen immer wieder Zuschauer zu mir, die sagen, sie hätten noch nie so intensiv ein Fußballspiel gesehen. Das liegt nicht nur an den Emotionen, sondern es ist das Sehen selbst: Mit der richtigen Musik sieht man einfach mehr. Das ist beim Fußball für mich nicht nur spannend, sondern fast ein Politikum.

Inwiefern?

Was ich am Fußball nicht mag, ist das, was es bei vielen geworden ist: ein absolutes Gewinnen-Müssen. Dadurch entsteht so viel Aggressivität. Da spielen Weltklasse-Spieler gegeneinander. Und vorm Fernseher sitzen Leute, die den Anspruch haben, man müsste jetzt mindestens in Finale kommen, sonst wäre das ja alles nichts. Als ob nicht alle anderen dasselbe Ziel hätten. Der sportliche Geist geht dabei oft unter. Und das wird auch noch verstärkt durch den Kommentator. Er ist immer parteiisch. Was er sagt, hat außerdem zu zwei Dritteln nichts mit dem Spiel zu tun. Wie viel Tore derjenige gemacht hat und wie viel Länderspiele jener. Man denkt dadurch als Zuschauer ständig über Dinge nach, die für das Spiel völlig irrelevant sind. Tatsächlich guckt man in dem Moment nicht genau hin.

Wie haben Sie sich auf das DFB-Pokalfinale vorbereitet? Spiele von Borussia Dortmund und Eintracht Frankfurt geschaut?

Nein, das mache ich nicht. Es geht nur um dieses Spiel. Das ist meine Einstellung: Ich hab auch nie eine Biografie von Beethoven gelesen und trotzdem liebe ich seine Musik. Das sind für mich zwei vollständig verschiedene Dinge. Die Vorbereitung findet auf einer ganz anderen Ebene statt. Ich bereite mich auf das Ungewisse vor.

Das müssen Sie erklären.

Na ja, ich muss üben, in jeder Situation die Möglichkeiten zu sehen, auf unterschiedlichste Weise weiter zu machen: Ein Konter kann zwar mit einem Tor enden, aber auch von einem Foul unterbrochen werden, in einem Abseits oder einer total langweiligen Situation münden. Es gibt zum Beispiel immer wieder Passspiele. Eigentlich eine lyrische Szene. Ich hatte mir mal überlegt, dass ich immer, wenn ein neuer Spieler den Ball annimmt, eine neue Harmonie spiele: Neuer Mann, neue harmonische Welt. Das habe ich ausprobiert und war überrascht, dass das Ergebnis häufig genau zweitaktig ist. Als ob die im Rhythmus spielen. Und wenn das Passspiel genau zweitaktig ist, dann fällt für diese Mannschaft auch bald ein Tor. Und zwar mit einer ziemlich großen Vorhersagekraft.

Welches Tor haben Sie denn auf diese Weise schon mal vorhergesehen?

Zum Beispiel das Tor bei der EM 2016 Russland gegen England in der Nachspielzeit. Und dieses Tor führte dann auch zu einem musikalisch fulminanten Ende des Konzertes. Das Ende eines Spiels ist ja eigentlich immer ein wenig unbefriedigend, weil es ja keiner dramaturgischen Regie folgt. Da ich ja auch nicht 100-prozentig weiß, wann genau es zu Ende ist, kann ich den Schluss auch nicht sehr lange vorbereiten. Aber in diesem Fall war das so: Ich hatte gesehen, durch diese Zweitaktigkeit, dass die Russen noch ein Tor machen. Das war musikalisch klar. Ich habe einfach darauf gewettet und die Musik immer mehr gesteigert. Und dann baff, ging der Ball rein, die Musik war auf dem Höhepunkt und Abpfiff. Was für ein unglaubliches Ende!

Das Gespräch führte Grit Weirauch

Stephan Graf von Bothmer, geboren 1971 in Rothenburg, gehört zu den bekanntesten Stummfilmmusikern in Deutschland. Bisher hat er über 600 Stummfilme vertont. Seine Komposition zum Stummfilm „Madame Dubarry“ wurde 2008 von Arte ausgestrahlt. Auch ZDF, 3Sat und Premiere spielen seine Filmmusiken. 2004 qualifizierte er sich in Pordenone (Italien) für einen Meisterkurs für Stummfilmpianisten – als einer von vier Stummfilmpianisten weltweit.

Das Endspiel der Fußball-Europameisterschaft 2008 begleitete von Bothmer an der Kirchenorgel.

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