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Kultur: Zu viel Marschmusik Erhard Scherner las „Ein schlesisches Kapitel“

„Die Julihitze heute ist nicht zu ertragen“, rezitierte Erhard Scherner gleich zu Beginn seiner Lesung am Freitagabend passend den berühmten chinesischen Dichter Du Fu. Und auch sonst wies einiges darauf hin, dass der promovierte Germanist und Übersetzer aus dem Chinesischen, der selbst einige Jahre im Reich der Mitte lebte, neue Geschichten vom Lao Wai – was im Chinesischen Fremder bedeutet – zum Besten geben würde.

„Die Julihitze heute ist nicht zu ertragen“, rezitierte Erhard Scherner gleich zu Beginn seiner Lesung am Freitagabend passend den berühmten chinesischen Dichter Du Fu. Und auch sonst wies einiges darauf hin, dass der promovierte Germanist und Übersetzer aus dem Chinesischen, der selbst einige Jahre im Reich der Mitte lebte, neue Geschichten vom Lao Wai – was im Chinesischen Fremder bedeutet – zum Besten geben würde.

Aber der 81-jährige Lyriker und Essayist, der schon lange Mitglied des Literatur-Kollegiums Brandenburg ist, las etwas ganz anderes. Einen autobiografisch geprägten Text, der ein Jahr im Leben des Jungen Konstantin beschreibt, der als Berliner Kind vom Spätherbst 1940 bis in den Sommer 1941 im oberschlesischen Krappitz (polnisch: Krapkowice) verbringt. Als „spilleriges blasses Großstadtkind“ wird er zu Onkel und Tante geschickt, um nach Jahresfrist mehrere Kilos schwerer und um unzählige Erfahrungen reicher, wieder in die Reichshauptstadt zurückzukehren.

Der 11-Jährige beobachtet aus der „Froschperspektive“ und mit wachem Intellekt das alltägliche Leben in der Kleinstadt und vor allem das seines Onkels Otto, der eine pommersche Beamtenseele und ein strammer Nazi war. Mit dem untrüglichen Gespür eines Kindes „weiß“ er bereits am Tag des Kriegsbeginns gegen die Sowjetunion, allein wegen deren unfassbarer Größe, dass „der Krieg verloren ist“. Scherner zeichnet mit wenigen Strichen aber viel Liebe zum Detail, einer Portion Ironie und flottem Lakonismus ein pralles Alltagsbild damaligen (kleinbürgerlichen) Lebens und Denkens. Besonders eindringlich waren Szenen wie der Sonntagsausflug ins Arbeitslager für Juden, der Besuch im örtlichen SA-Lokal oder die Zigaretten-Unterstützung für den Soldaten im Arrest.

Doch vor allem ist es auch die Geschichte einer Jungenfreundschaft. Konstantin trifft in Krappitz den gleichaltrigen Cousin Otto und beide verbindet eine lebenslange Zuneigung, obwohl sie sich nach diesem gemeinsam verbrachten Jahr erst viele Jahrzehnte später wieder treffen. Der Cousin, nach der Vertreibung aus Schlesien in den 50er Jahren von Nürnberg nach Kalifornien ausgewandert, bringt es auf den Punkt: „Zu viel Marschmusik“, erklärt er, als er viele Jahre später nach dem Grund seiner Auswanderung gefragt wird. Scherner gelingt es, auf wenigen Seiten ein schwieriges Kapitel Geschichte ohne Verklärung aber doch mit Wehmut aufzuzeigen.

Einige der mehr als zwei Dutzend Zuhörer gaben sich im Anschluss an die unterhaltsame Lesung – der sehr agile Autor sang sogar – ebenfalls als „schlesische Lergen“ zu erkennen. Der Begriff „Lerge“ wird dem Schriftsteller Karl von Holtei zugeschrieben und wurde sowohl als Schimpf- als auch als Kosewort benutzt. Scherner erzählte anschließend, dass dieses „schlesische Kapitel“ ein Teilstück eines größeren autobiografischen Textes werden könnte – wenn er denn die Kraft aufbringe, neben den geliebten Chinesisch-Übersetzungen die vielen biografischen Einzelstücke zusammenzubringen.Astrid Priebs-Tröger

Astrid Priebs-Tröger

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