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Kultur: Zeit der Seelenlosigkeit Manfred Flügge porträtiert Wien 1938

Ein Buch über den Geisteszustand einer Stadt zu schreiben, scheint ein seltsames Unterfangen. Wie lässt sich schon der Geist eines Ortes und ihrer Menschen festhalten, will man nicht metaphysisch oder gar esoterisch abheben?

Ein Buch über den Geisteszustand einer Stadt zu schreiben, scheint ein seltsames Unterfangen. Wie lässt sich schon der Geist eines Ortes und ihrer Menschen festhalten, will man nicht metaphysisch oder gar esoterisch abheben?

Der Autor Manfred Flügge hat es in seinem Buch „Stadt ohne Seele. Wien 1938“ versucht, am Sonntag sollte er in der Villa Quandt daraus lesen. Nun ist der Autor erkrankt, der Potsdambesuch entfällt – aber lesenswert ist sein Buch, eine Art geistiges Porträt der österreichischen Hauptstadt zur Zeit des „Anschlusses“, allemal.

Manfred Flügge ist von Hause aus Romanist – er unterrichtete an der FU Berlin – und hat sich in den letzten Jahren vor allem als Künstlerbiograf einen Namen gemacht, mit Lebensläufen von Heinrich Schliemann, Stéphane Hessel, und zuletzt mit dem Verkaufshit „Das Jahrhundert der Manns“. Meist tritt er dabei als Historiker, Biograf und Erzähler in einem auf.

So auch in „Stadt ohne Seele“. Darin dokumentiert Flügge eindrücklich die letzten Tage der Eigenständigkeit des österreichischen Staates. Mit dem umjubelten Einmarsch der deutschen Truppen im März 1938 zerbricht er endgültig. Flügge schneidet gekonnt biografische Notizen und Anekdoten von Intellektuellen und Künstlern dagegen, die schleunigst das menschlich verwahrloste Land verlassen. Oder aber bereits in den Jahren zuvor Opfer des um sich greifenden Judenhasses werden. Wie etwa der zum Protestantismus konvertierte jüdische Schriftsteller Hugo Bettauer, der 1922 bereits in seinem Roman „Die Stadt ohne Juden“ (verfilmt 1924) die späteren Ereignisse vorwegnahm: Eine halbe Million Menschen soll per Gesetz die Stadt verlassen, „die Masse der Wiener Bevölkerung ist begeistert und in Feierlaune“, schreibt Flügge. Doch die Stimmung im Buch schlägt alsbald um, und „Wien ohne Juden wirkt wie ein ‚internationales Dummheitsmuseum’“. Flügge greift den Titel des Romans auf, der Hugo Bettauer 1925 das Leben kostete – er wurde von einem Anhänger der Nazis erschossen.

Schier unzählige solcher Episoden und Eindrücke lassen für den Leser die Atmosphäre Wiens jener Jahre auferstehen, mit dem blanken Judenhass, den die katholische Kirche breit unterstützte. Wirklich einzutauchen in die Geschichte gelingt aber an vielen Stellen nur schwerlich. Denn dafür sind die die Historie untermalenden Geschichten à la Guido Knopp oft zu kurz. Und vor allem sind es schlicht zu viele. Das Personenregister im Anhang des vom Verlag als Zeitenroman beworbenen Buch umfasst allein ein Dutzend Seiten, demnach kommen rund 600 Personen in „Stadt ohne Seele“ vor. Es liest sich wie das „Who is Who“ Wiens jener Jahre, aber auch Namen wie Salvador Dalí, Johann Sebastian Bach oder Alfred Dürer werden darin aufgeführt. Einzig Sigmund Freud, die zweite titelinspirierende Gestalt, bekommt mehr epische Tiefe.

Letztlich ist Flügges „Stadt ohne Seele“ ein kenntnisreiches ideengeschichtliches Panorama, das aus vielen Miniaturen und Splittern aufgebaut ist und wie in einem Kaleidoskop das geistige Wien aufblitzen lässt. Dem gewählten Genre, irgendwo zwischen historischem Roman und geschichtlicher Abhandlung, Sachbuch und Literatur angesiedelt, macht es alle Ehre. Grit Weirauch

Manfred Flügge: „Stadt ohne Seele. Wien 1938“, Aufbau-Verlag 2018, 25 Euro

Grit Weirauch

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