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Kultur: Wortlos alles sagen

Alexander Nerlich hat Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ am Hans Otto Theater neu inszeniert

Das Leben, glaubt man gerne, folgt einem Spannungsbogen. Schwillt langsam an, läuft auf einen Höhepunkt zu, klingt dann ruhig aus. Nichts davon stimmt, weder für das Individuum, noch für die Geschichte, die wir schreiben, solange wir auf diesem Planeten leben. Dinge geschehen, aber nicht für einen höheren Zweck. Sie erzwingen keine Konsequenzen und keine Entwicklung. Weder ethisch noch intellektuell.

Und so beginnt Peter Handkes Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“, das Alexander Nerlich als dunkel glühendes Meisterwerk am Hans Otto Theater inszeniert hat, mit einem Anfang, dem ein Ende vorausgegangen scheint. Ein moralischer Bankrott, Barbarei. Ein schwarzer Kegel steht da in der Mitte der Bühne, wie eine Pyramide, ein archaischer Opferort. Zu einem dumpfen Bass windet sich an der Spitze ein Wesen aus der Plane. Eine Göttin im hautengen schwarzen Latex, das nur Streifen ihres Gesichts frei lässt. Eine Zeremonienmeisterin im Spiderman-Kostüm. Langsam lüftet sie die Plane, enthüllt einen barocken, völlig schwarzen Springbrunnen, auf dem gekrümmt nackte Gestalten liegen.

Ihre Köpfe sind kahl, ganz langsam erheben sie sich, tasten sich herab auf die Erde, probieren ihre Körper, strecken Arme und Beine, blinzeln ins Licht. Es ist eine Geburt der Zivilisation, der unzählige Zivilisationsbrüche vorausgegangen sind oder keiner.

Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben ist barbarisch, schrieb Adorno, vielleicht gilt das auch für Dramatik, vielleicht hat Handke deshalb auf jeden Text hier verzichtet.

Denn das Stück ist wortlos, kein Monolog, kein Dialog, die zwölf Schauspieler interagieren kaum miteinander. Sie begegnen sich, aber sie begreifen sich nicht. Sie bleiben sich fremd. Dabei durchwabert das Stück alle Zeitalter, kippt vom indigenen Opferritus ins Berghain, in das Herz des großen Gleichmachers Techno. Die Poesie, die in der Aufgabe jeder Eitelkeit, jeder Selbstreflexion, in der Hingabe an das Erhabene liegt, bleibt dieselbe. Die schwarze Göttin trommelt mit ihren Füßen den Beat dazu. Sie lässt ihre Kinder tanzen. Am Anfang nackt, doch nach und nach kommen die 394 Kostüme zum Einsatz, die Amit Epstein entworfen hat. So präzise und zugleich verspielt, so schön und erzählerisch, dass fast jedes von ihnen eine eigene Rolle spielt. Wie in einem Flagshipstore hängen diese Wunderwesen, alle aus durchsichtiger Gaze, in zitronengelb, neongrün und rosa, in silber und gold, auf langen Stangen aufgereiht links und rechts des Brunnens.

Das ist das Bild in dem sich alles bewegt, gebaut hat diese tief beeindruckende Bühne Wolfgang Menardi. Die Schauspieler hetzen auf und ab, sacken einsam zusammen oder sind verkniffen, besessen – wie die großartige Rita Feldmeier – und laufen bis zur Erschöpfung weiter. Ihre Nichtverbundenheit erschöpft sie, trotzdem gelingt es ihnen kaum, sich nahe zu kommen. Einmal wird Denia Nironen, eine der fragilsten Seelen in diesem Tanz der Einsamen, hingebungsvoll aufgefangen, ja geliebt. Doch dieser kurze Moment zerreißt, als sie sofort in die Arme eines Anderen schlittert.

Nur die schwarze Göttin steigt ab und zu herab, erlöst den einen, bestraft den anderen. Reicht der weinenden Andrea ein Büschel blondes Haar, Trost, nur um es ihr sofort wieder zu nehmen und dem nächsten Verzweifelten zu geben. Und dann dem nächsten. Gnade ist nicht gerecht, das Glück wird nicht fair verteilt. Und die Menschen lernen in ihrer Verlorenheit nicht.

Die Stunde da wir nichts voneinander wissen ist jetzt, ist jede Stunde die vergeht.

Fast gegen Ende scheint sich ein Bogen zum Anfang, dem Moment der Befreiung zu schlagen: In umgekehrter Logik werfen die Schauspieler Bücher in den Brunnen, aus dessen rundem Becken jetzt Flammen leuchten. Moritz von Treuenfels steht, die Hacken zusammengeknallt, davor und ext Bier, bis er sich erbricht. Noch einmal scheint es Rettung zu geben, noch einmal steigt Gott herab, streift der vor Kälte und Einsamkeit zuckenden Nironen ein buntes Federkleid über – und scheint mit dieser einen Seele die ganze Menschheit gerettet zu haben. Wie ein Strauß Flamingos drapieren sich alle um den Brunnen. Es könnte ein Schlussbild sein.

Dann aber natürlich zerfällt auch dieses wieder in Chaos. Und wie all die anderen Bilder zuvor will man sich auch dieses für immer einprägen, es wieder und wieder abrufen können. Weil es zu tief, zu dicht, zu voll von Geschichte, Schönheit und Schmerz ist, um es sofort ganz zu begreifen. Man muss Nerlichs Handke mehr als einmal sehen. Diese Verweigerung jedes Wortes, die man deshalb so reich finden könnte, weil im Verzicht auf Text auch immer angenehm vage, sich nicht festlegende Unkonkretheit liegen kann.

Hier aber ist sie das Gegenteil. Ohne die verschleiernde, immer vorbesetzte Macht der Worte wird diese stumme Erzählung konkret. Glasklar erzählt sie von allem, von den Wahrheiten, die wie sonst nur mit unseren Worten verbrämen.

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