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Wilhelmshorster Poesiealbum wird 50: Gedichte zum Preis von einem Brot

Die legendäre Heftreihe „Poesiealbum“ wird 50.

Von Sarah Kugler

Potsdam - Lyrik ist der Spiegel einer Epoche. Aus einem individuellen Blickwinkel heraus, aber – besonders in Zeiten des Umbruchs oder der Krise – immer auch mit einem Blick auf die Gesellschaft. Der Czernowitzer Dichter Immanuel Weissglas hat so einen Blick. 1920 als Kind einer deutsch-jüdischen Familie in der Ukraine geboren, überlebte er in den 1940er-Jahren die rumänischen Lager in der Ukraine. Das aktuelle „Poesiealbum 333“ aus dem Märkischen Verlag des Peter-Huchel-Hauses in Wilhelmshorst spricht von diesen Erlebnissen. Von Verfolgung und Krieg, von Gräbern und vom Tod. Herausgegeben hat es die Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Reihe „Poesiealbum“ stellt sie es heute im Peter-Huchel-Haus vor.

Seit 50 Jahren erscheint das „Poesiealbum“. Das erste kam am 7. Oktober 1967 heraus und enthielt Gedichte von Bertolt Brecht. Damals kostete ein Heft 90 Pfennig – so viel wie ein Brot. Bis 1990 erschien im Verlag Neues Leben Berlin jeden Monat ein Heft. Seit 2007 wird die Lyrikreihe vom Märkischen Verlag Wilhelmshorst fortgesetzt, verlegt von Klaus-Peter Anders. Das nächste Heft ist bereits geplant: mit Texten von Adolf Glaßbrenner, dem deutschen Humoristen und Satiriker. Diesem Zeitgenossen von Theodor Fontane wird unter anderem ein böser Leserbrief als Reaktion auf eine Theaterkritik Fontanes zugeordnet, in dem er das Kürzel „Th.F.“ des Autors als „Theaterfremdling“ umdeutet. 2013 wurde der Potsdamer Lyrikerin Christiane Schulz ein Heft gewidmet. Erschienen sind auch immer wieder Ausgaben unbequemer deutscher Dichter wie Sarah Kirsch, Reiner Kunze oder Günter Kunert sowie Außenseitern wie Uwe Gressmann.

Vorbild für Celans "Todesfuge"

Auch der 1979 verstorbene Immanuel Weissglas gehört eher zu den Außenseitern – oder zumindest zu den Unbekannteren. Zu Unrecht. Denn seine Gedichte sind von grausam poetischer Schönheit. Er schreibt in einer sehr bildhaften Sprache und doch auf den Punkt genau. Strophen wie „Über Nacht kam Wanderzeit/ regnerisch, mit Wind und Wolke/ damals war ich eingeweiht/ und ich zog mit meinem Volke“ aus dem Gedicht „Nachtzeit“ erschließen sich dem Leser sofort. Weissglas, der dank seiner gut situierten Familie eine gute Ausbildung genoss, übersetzte bereits als Schüler fremdsprachige Literatur. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden er und seine Famile von Lager zu Lager geschoben – ein Einschnitt, der im Gedicht deutlich wird.

Vor allem durch den Rhythmus seiner Sprache fällt es schwer, sich seinen Worten zu entziehen. Im Gegensatz zu seinem lebenslangen Freund Paul Celan schreibt er seine Gedichte in Reimform. Eine Form, die sich schnell einprägt und im Metrum oft an einen Marschschritt erinnert. Sein Gedicht „Er“ gilt als so etwas wie eine Vorlage für Celans berühmte „Todesfuge“. In beiden Texten wird ein Mann erwähnt, der mit Schlangen spielt – und auch die Gegenüberstellung von Menschen, die parallel Gräber schaufeln und zum Tanz aufspielen sollen, findet sich in beiden Gedichten. Zwei individuelle Spiegel der Zeit – und doch ein gemeinsamer Blick auf die Ereignisse. >>Lesung mit Kathrin Schmidt und Klaus-Peter Anders, heute um 20 Uhr im Peter-Huchel-Haus, Hubertusweg 41 in Wilhelmshorst

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